© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 06/21 / 05. Februar 2021

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weißmann

Der Politiker dreht es hin, wie er es braucht, der Journalist framed es zurecht, wie es ihm gefällt.“ (Don Alphonso)

˜

Zum feministischen Narrativ gehören Mythen und Märchen. Als Mythos (das heißt als sinnstiftende Geschichte ernsthaften Charakters) darf man die Erzählung von Gender oder Queer Studies als Wissenschaft betrachten, die Behauptung, daß durch die Vermehrung weiblicher Lehr-

stuhlinhaber eine Disziplin aufblüht, daß Quotenregelung etwas mit Gleichheit zu tun hat, daß Frauen über einen privilegierten Zugang zur Wahrheit verfügen oder an der Spitze politischer Systeme für deren friedliches und geräuschloses Funktionieren sorgen, daß Kleopatra wichtiger war als Cäsar, Katharina von Bora wichtiger als Martin Luther, Charlotte Perriand wichtiger als Le Corbusier. Zu den Märchen (das heißt zu den sinnstiftenden Geschichten unterhaltenden Charakters) sind alle Erzählungen zu rechnen, in denen die Erbinnen von Emma Peel Männer, die doppelt so schwer und zwei Köpfe größer sind, mit bloßen Händen schlagen, Schildmaiden im Kettenhemd Wikingerheere führen, Superweiber ihre männlichen Feinde regelmäßig durch Tritt in die Geschlechtsteile niederwerfen oder in Skinny Jeans samt hochhackigen Schuhen erfolgreich auf Verbrecherjagd gehen. Weiter zu nennen wären die Phantasien, in denen eine Schach-Großmeisterin Männer nicht nur mit den Waffen einer Frau, sondern auch mit ihrer überlegenen Intelligenz erledigt (soweit Wikipedia zu entnehmen, spielen Männer und Frauen in getrennten Ligen Schach, Männer dürfen nicht an Turnieren der Frauen teilnehmen, Frauen aber an Turnieren der Männer; in der Weltrangliste aller Spieler hält die beste Frau Platz 87).

˜

„Wir können sie nicht zwingen, die Wahrheit zu sagen. Aber wir können sie zwingen, immer unverschämter zu lügen.“ (Slogan der Öko-Bewegung, 1980er Jahre)

˜

Auch die Lektüre alter Zeitungen kann zu Einsichten führen. So nimmt der Heutige überrascht zur Kenntnis, daß Feldmarschall Montgomery – der auch hierzulande einen Ruf hat, als ritterlicher Gegner unseres „Wüstenfuchses“ – anläßlich eines Vortrags vor britischen Offizieren im März 1962 äußerte, man solle Bundeskanzler Adenauer etwas von dem hochgiftigen Pflanzenschutzmittel E 605 ins Essen geben. Eine kleine Dosis werde genügen, da Adenauer schon ein alter Mann und überaus empfindlich sei. Auf Nachfrage, wie er zu einer solchen Aussage komme, war Montgomery weit davon entfernt, sich zu rechtfertigen, sondern erklärte unverblümt: „Adenauer sollte sich darüber klar sein, daß es niemals ein wiedervereinigtes Deutschland geben wird. Die Westdeutschen werden im Westen bleiben, die Ostdeutschen im Osten.“

˜

Wie haben es unsere Vorfahren nur fertiggebracht, sich morgens zu erheben und auf Mammutjagd zu gehen? Ohne Kaffee.

˜

Im Hinblick auf all jene, die uns mit Political Correctness, Cancel Culture und Deplatforming belästigen, muß man im Blick behalten, daß es sich nicht um eine kompakte Einheit handelt, sondern um eine gegliederte: die ungeheure Masse der Dummen, die auf Kommando krakeelen, die Leute in der Führung, die wissen, daß sie keiner offenen Debatte gewachsen wären, und nicht zu vergessen eine zynische Spitze, die sich Vorteile ausrechnet.

˜

Krisen sind nicht nur strapaziös, sondern auch lehrreich. Lernen konnte man in den vergangenen Monaten, daß die Bevölkerung insgesamt ausgesprochen geduldig und diszipliniert ist, daß man für das medizinische Personal und die pflegenden Berufe nur Respekt haben kann, daß unsere Verwaltung nicht mehr richtig funktioniert und irgend etwas gründlich schiefgegangen sein muß bei der Elitenrekrutierung.

˜

In seiner jüngsten Rundfunkkolumne (NDR Kultur vom 30. Januar) hat Harald Martenstein sich mit den Grenzen der Toleranz beschäftigt und ein flammendes Plädoyer für „das Recht auf verrückte Ansichten“ gehalten. In einer freien Gesellschaft, so seine These, dürfen auch Anhänger von Hohlwelttheorie, Q-Anon oder Leugner der Mondlandung existieren und sich äußern. Wirklich treffend ist aber eine Nebenbemerkung, in der Martenstein auf seine eigene Generation zu sprechen kam. Gemeint sind jene Achtundsechziger, in deren Reihen es vormals eine erhebliche Zahl von Menschen gab, die fest von der Notwendigkeit einer blutigen Revolution überzeugt waren oder Stalin im Vergleich zu Helmut Kohl für den besseren Mann hielten. Kurz darauf, so Martenstein, fand man dieselben wieder: als Chefredakteure, CEOs oder Minister. Offenbar habe den Betreffenden niemand ihre früheren Auffassungen zum Vorwurf gemacht. Die Ordnung der Bürgerlichen, der Spießer und Reaktionäre, die sie so leidenschaftlich bekämpften, erwies sich ihnen gegenüber als außerordentlich tolerant. Wie anders heute, wo die betreffenden die Grenzen des Mein- und Sagbaren bestimmten. 

Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 19. Februar in der JF-Ausgabe 8/21.