© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 06/21 / 05. Februar 2021

Überaus lammfromm geworden
Autoritäre Maßnahmen: Mit ihrer Haltung zu den Einschränkungen der Freiheitsrechte verabschiedet sich die Linke als staatskritische Potenz
Felix Dirsch

Manchmal bringt Feindbeobachtung echte neue Erkenntnisse. Das Antifa-Magazin Der rechte Rand bringt in seiner Ausgabe 181 (11-12/2019) einen Beitrag von Karsten Smid unter dem Titel „Der Klimadiskurs von rechts“. Der Autor macht sich natürlich nicht die Mühe, die umfangreiche neuere Literatur – und sei es auch nur die deutschsprachige – zum Thema auszuwerten, die zum Teil den menschengemachten Faktor des Klimawandels minimiert. Smid geht es hauptsächlich darum, „Klimaleugner“ – wer immer das sein soll – aufzuspießen. Im Vergleich zu den substanzlosen Rundumschlägen ist aber interessanter, daß er der Rechten eine „fundamentale Ablehnung der etablierten Institutionen“ vorwirft.

Bei einer solchen Aussage stutzt man. War es nicht einst die politische Linke, die aus ihrer Sicht ungerechte Einrichtungen umwälzen wollte? Die Wissenschaft wird von Smid im Fortgang seiner Argumentation zur Magd degradiert. Er unterstellt den rechten Kritikern des Hauptstromes unwissenschaftliche Sichtweisen. Andere Linke feiern euphorisch einen Alarmisten wie den allgegenwärtigen Regierungsvirologen Nummer eins.

Wer Wissenschaft beachtet, ist demnach links, wer sie hinterfragt, ist rechts. Smid befindet sich damit nicht in der Tradition bedeutender linker Intellektueller. In dem legendären Bändchen der Suhrkamp-Reihe „Technik und Wissenschaft als ‘Ideologie’“ machte der junge Jürgen Habermas zu Zeiten, als die Linke noch authentische oppositionelle Kraft war, darauf aufmerksam, daß technizistisch infizierte Rationalität zu unreflektierten Zielen, erstarrten Wertsystemen, hinfälligen Ideologien und instrumentalisierter Wissenschaft führe.

Linken-Politiker erörtert Versagen der WHO

Von einer solchen Angriffslust ist über fünfeinhalb Jahrzehnte später kaum etwas übriggeblieben. Zwar sind die Bürgerrechte in der Theorie immer noch heilig, wenn es aber darauf ankommt, wird deren wenigstens partielle Preisgabe höchstens von einigen Grundsatztreuen bedauert – und diese werden dann schnell zurückgepfiffen. Vor allem natürlich, wenn es (selten näher konkretisierte) Rechte sind, die auf die Unverhältnismäßigkeit der Einschränkungen verweisen.

Der Linken-Politiker Andrej Hunko hatte sich im Frühjahr 2020 weit vorgewagt, als er auf einer Demonstration in Aachen gemeinsam mit Gegnern der staatlichen Corona-Maßnahmen von der anderen Seite aufgetreten war. Mit einem Essay, der in dem von Hannes Hofbauer und Stefan Kraft herausgegebenen Sammelband „Lockdown 2020: Wie ein Virus dazu benutzt wird, die Gesellschaft zu verändern“ abgedruckt ist, tritt er ins nächste Fettnäpfchen. Er erörtert das Versagen der WHO in der aktuellen Pandemie. Besonders der Hinweis auf einige Machenschaften der „Bill & Melinda Gates Stiftung“ wird in seinen Kreisen als rechtfertigungsbedürftig begriffen, sind es doch im Regelfall vermeintlich rechte Verschwörungstheoretiker, die das globalistische Agieren des US-Unternehmers und seiner Gattin herausstellen.

Eigentlich müßte es eine der Kernaufgaben aller Schattierungen der Linken sein, die Einflüsse von Großkapitalisten aufzuspüren, so sehr sie auch ihre Motive philanthropisch verschleiern. Hunko leugnet nicht, daß es abstruse Theorien über das Wirken des Ehepaares Gates gibt. Er sieht es aber als problematisch, daß Superreiche maßgeblich die Ausrichtung der obersten Weltgesundheitsorganisation bestimmen. 

Ein weiteres Zeichen für den Wandel der Linken von der kritischen Potenz zu Befürwortern autoritärer Staatlichkeit ist die Einstellung gegenüber Notstandsmaßnahmen. Früher Horrorvorstellung, rufen heute rot-grüne Politiker im Zusammenhang mit der „Bekämpfung des Klimawandels“ oft den Notstand aus. Im Kontext des augenblicklichen „Hygieneregimes“ ist es nicht anders. Nur wenigen dämmert, daß der Demokratieabbau infolge des im November 2020 nochmals erweiterten Infektionsschutzgesetzes größer ist als alles, was man unter kapitalistischen Bedingungen bisher gewohnt war. Die massiven sozialen Verwerfungen als eine Konsequenz des erzwungenen Stillstandes werden bald in aller Munde sein. Für die Linke jedoch selten ein Grund zur Aufregung! 

Es gibt freilich plausible Erklärungen für die lammfromme Haltung derer, die früher einmal revolutionär sein wollten. Der Wertewandel der bürgerlichen Parteien, der nicht erst seit Markus Söders „Ergrünung“ zum Vorschein kommt, ist für eine weitgehende Übernahme linker Zielsetzungen verantwortlich. Die Neupositionierung in puncto Migration, Energiewende und „Klima-Regime“ ist beispielhaft zu nennen. Wer – selbst als formelle Opposition – faktisch staatstragend ist, wird sich nicht mit Gegnern der Herrschenden verbünden. Zu diesen zählen auch die ins Gerede gekommenen Querdenker gegen Schutzmaßnahmen im Zuge der Covid-19-Pandemie, die natürlich im Rahmen ihrer Proteste keine echte Querfront bilden können. Das rot-grüne Establishment müßte um die eigene Reputation fürchten, kämen seine Vertreter auf die Idee, sich dort einzureihen.

Umstürzlerischer Elan ist nirgendwo zu bemerken

Von dem Journalisten Peter Nowak, der einen Beitrag in dem erwähnten Sammelband verfaßt hat, stammt eine interessante Beobachtung über das Verhalten der Linken vor einem Jahrhundert, als die Spanische Grippe wütete. Er sieht die damaligen Revolutionäre beflügelt von den Ereignissen 1917/18 in Rußland. Seinerzeit akzeptierten die Systemveränderer nirgendwo den Kapitalismus als das „Ende der Geschichte“; vielmehr initiierten sie überall Generalstreiks und sorgten für Unruhen. Eine bessere Gesellschaft schien sich am Horizont abzuzeichnen.

So viel umstürzlerischer Elan ist heute nirgendwo zu bemerken, auch nicht im sozialpolitischen Bereich. Natürlich existieren Ausnahmen, zu denen die frühere Fraktionssprecherin der „Linken“-Bundestagesfraktion, Sahra Wagenknecht, gehört. Sie ist für eigenständige Meinungen bekannt, die in ihrer Partei und ihrer Fraktion nicht mehrheitsfähig sind. Die Ehefrau von Oskar Lafontaine moniert unter anderem die Ignoranz der eigenen Führungsschicht gegenüber Forderungen des kleinen Mannes, der Masseneinwanderung und damit einhergehende Belastungen des Sozialstaates in aller Regel ablehnt. Die eigentliche Front ist aber die, die gegen „rechts“ geht. Sie wird künftig noch üppiger alimentiert.

Hannes Hofbauer / Stefan Kraft (Hrsg.): Lockdown 2020: Wie ein Virus dazu benutzt wird, die Gesellschaft zu verändern. Promedia, Wien 2020, kartoniert, 280 Seiten, 19,90 Euro