© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 06/21 / 05. Februar 2021

Neurologische Argumente für Luftreinhaltung
Neuere Forschungen bestätigen einen engen Zusammenhang von Feinstaub und Alzheimer
Christoph Keller

Bisher hat sich die Forschung zu Alzheimer und Parkinson auf die genetischen Ursachen konzentriert. Seit vier Jahren, so berichtet die US-Wissenschaftsjournalistin Ellen Ruppel Shell, widmeten sich Neurobiologen auch Lebensstil und Umwelteinflüssen, auf die 40 bis 65 Prozent des Risikos, an neurodegenerativen Erkrankungen zu leiden, zurückgehen sollen. Vor allem die Forschung zum Faktor Luftverschmutzung sei „geradezu explodiert“ (Spektrum der Wissenschaft, 11/20).

Schwebende, mit Giftstoffen gefüllte Tröpfchen oder Festkörperpartikel mit dem Durchmesser von einem Dreißigstel eines Haares, entstehen beim Verbrennen von Öl, Gas, Kohle und Holz. Wegen ihrer Durchschnittsgröße von 2,5 Mikrometern (PM2,5) auch als Feinstaub bezeichnet, sind diese Partikel, die mit jedem tiefen Atemzug in die Lunge gelangen können, seit Jahren in der Diskussion. Es ging dabei um das Für und Wider autofreier Städte oder um Partikelfilter für Dieselmotoren und Benzindirekteinspritzer, die einen etwas geringeren CO2-Ausstoß als Saugmotoren haben. Im Zusammenhang mit neurologischen Erkrankungen spielten PM2,5 kaum eine Rolle.

Partikel überwinden die Blut-Hirn-Schranke

Die Medizin nahm lange an, das Gehirn sei durch die Blut-Hirn-Schranke, einer Schicht dichtgepackter Zellen, die die Blutgefäße des Denkorgans wattieren, vor den giftigen Mikropartikeln geschützt. Inzwischen gibt es robuste Belege dafür, daß PM2,5-Teilchen diese Barriere überwinden: zum einen verändern sie die Schranke, um sie für toxische Substanzen durchlässiger zu machen, zum anderen können sie sie vollständig umgehen, indem sie über die Nase in den Riechnerv eindringen, um von hier aus in den Riechkolben zu wandern. Gegen diese Luftverschmutzung ist das Gehirn folglich nicht besser gewappnet als die übrigen Organe.

Neuere Studien über die Zusammenhänge zwischen Luftqualität und Hirnerkrankungen iniziierten Forschungen von Lilian Caldéron-Garcidueñas (University of Montana). Die Neuropathologin stammt aus Mexiko-Stadt, die die Uno 1992 zur „am stärksten verschmutzten Metropole der Welt“ kürte. Sie sezierte dort vor 20 Jahren Hirne von Hunden aus den stark belasteten südwestlichen Stadtvierteln, die auffällige Spuren degenerativer Prozesse aufwiesen. Diese Entdeckung veranlaßte sie, auch Menschen zu untersuchen. Was sie selbst schon bei verstorbenen Säuglingen und Kleinkindern fand, waren Eiweiß-Ablagerungen, wie man sie aus Sektionen von Alzheimer-Patienten kennt. Daraus zog sie ihren 2008 erstmals publizierten Schluß, Luftverschmutzung sei ein Alzheimer-Risikofaktor, was insbesondere für erblich vorbelastete Menschen gelte.

Weitere Studien haben ihren alarmierenden Befund seitdem bestätigt. Jennifer Weuve (Boston University) leitete 2012 eine US-weite Erhebung, die eine zunehmende Zahl von Schlaganfällen und Herzinfarkten als Indiz dafür nahm, daß die nicht funktionierende Blutzirkulation im Gehirn dieser Patienten auf die schlechte Luftqualität ihres Milieus zurückzuführen sei. Parallel dazu experimentierten Toxikologen mit Ratten, die sie Luft mit einem hohen Anteil an Schwebteilchen aussetzten. Tatsächlich wiesen Weuves Kollegen nach, daß dabei Neurotoxine wie Mangan in die Rattenhirne gelangten.

Vergleichbar beunruhigende Resultate meldeten 2018 britische Forscher, die zwischen 2005 und 2013 die Gesundheit von 131.000 Londonern im Alter von 50 bis 79 Jahren überwacht hatten. Unter denen, die schlimmen Luftverschmutzungen ausgesetzt waren, fanden sie die meisten Demenzfälle. Ähnlich verlief eine Untersuchung mit fast 100.000 Personen in Taiwan. Wissenschaftler von der Universität Toronto wiederum analysierten Daten von 6,6 Millionen Einwohnern der kanadischen Provinz Ontario. Sie fanden dabei heraus, daß Menschen, die in einem Umkreis von 50 Metern um eine Hauptverkehrsstraße herum wohnten, ein um zwölf Prozent höheres Demenzrisiko hatten als jene, die mehr als 200 Meter davon entfernt lebten.

Chronische Entzündungen töten Nervenzellen

Doch Ruppel Shell warnt vor simplen Kausalitäten: Die Studien belegen zwar, daß Alzheimer und Luftverschmutzung vermehrt zusammen auftreten, sie können aber nicht belegen, ob und wie sie zusammenhängen. Dazu bräuchte es Experimente, in denen Menschen gezielt über Monate und Jahre dem vermuteten Risikofaktor PM2,5 ausgesetzt wären, was aber auf unethische Menschenversuche hinausliefe.

Daher nutzen Wissenschaftler vermehrt Tiermodelle. So pumpte der Neurobiologe Colin Comps (University of North Dakota) 2015 verschmutzte Luft in Käfige mit genetisch identischen Mäusen. Er variierte dabei die Schadstoffkonzentration und die Behandlungsdauer. Um zu beobachten, daß langfristige Belastungen durch luftgetragene Feinstaubpartikel das Gehirn der Nager veränderte, und die „Entwicklung einer frühen alzheimerähnlichen Pathologie“ förderten.

Was PM2,5 im Gehirn anrichtet, deckt sich mit den Vorstellungen der Neurotoxikologin Deborah Cory-Slechta (University of Rochester) darüber, wie sich Alzheimer-Schäden entfalten. Demnach regen die giftigen Substanzen sowohl bei Tieren als auch bei Menschen Immunzellen im Hirn an, Zytokine freizusetzen. Diese Signalmoleküle helfen im Normalfall dabei, die Immunabwehr sowie Entzündungen zu steuern und das Gehirn gegen Eindringlinge von außen abzuschirmen. Eine länger andauernde Belastung mit verschmutzter Luft kann aber zu deren Überproduktion und damit zu chronischen Entzündungen führen, in deren Verlauf Nervenzellen absterben.

Aber auch mit solchen Nachweisen, daß Ultrafeinstaub die wichtigste externe, nicht genetisch bedingte Ursache für ein erhöhtes Alzheimer-Risiko und wohl auch für Covid-19 ist, steht die Forschung noch vor vielen Fragen. Es ist unklar, welche unter den Hunderten von Substanzen des Feinstaubs, von Schwefeldioxid und Stickoxiden bis hin zu lungengängigen Partikeln aus dem Abrieb von Bremsen und Reifen, die neurodegenerativen Prozesse in Gang setzen. „Ein starkes Argument“, so zitiert Ruppel Shell die Epidemiologin Kelly Bakulski (University of Michigan), für strengere Kontrollen der Luftqualität seien die bisher vorliegenden Daten jedoch schon. „Denn im Gegensatz zu unseren Genen“, stellt Bakulski mit Blick auf die dort bislang nicht recht vorangekommene Alzheimer-Forschung fest, „können wir Umweltfaktoren beeinflussen“.

 health.umt.edu

„The Impact of Inhaled Ambient Ultrafine Particulate Matter on Developing Brain“:  journals.sagepub.com