© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 06/21 / 05. Februar 2021

Der Flaneur
Spannung im Lockdown
Elke Lau

Vorlagen für Kriminalgeschichten liefert der Alltag. Ich warte auf einer Bank des Hamburger Hauptbahnhofs auf meinen Zug. Etwas geistesabwesend schaue ich Flaschensammlern, Rauchern und Würstchenessern hinterher, als ein Krawattenträger in feinem Zwirn an der Bahnsteigkante entlangschlendert, plötzlich einen Haken schlägt, eine offensichtlich englische Zeitung hervorzaubert und auf dem Papierabteil der Abfallkörbe sichtbar plaziert. Danach steuert er zügig die nächste Rolltreppe an.

Während ich noch überlege, das ungelesen wirkende Exemplar näher in Augenschein zu nehmen, taucht ein schlaksiger Jüngling auf, geht schnurstracks auf die Zeitung zu und stopft sie – ohne nach rechts oder links zu schauen – in die Innentasche seiner Jeansjacke, macht auf dem Absatz kehrt und sprintet die nächstgelegene Treppe hoch. Zufall?

Mein Gatte und ich glauben: Der Mann im Auto ist Detektiv. Aber wen beschattet er?

Oder hat mich das Ermittlerfieber gepackt? Denn später weckt eine andere Beobachtung mein Interesse: In unserer Straße befindet sich ein Sportstadion. Seit einigen Tagen parkt auf dem leeren Areal – immer zur gleichen Stunde – ein Mann in einem dunklen Geländewagen. Das Seitenfenster ist geöffnet, nur das Profil des Fahrers ist sichtbar, denn sein Blick ist starr auf unsere Häuserblocks gerichtet. Den Arm hält er aus dem Fenster, damit er die Asche seiner brennenden Zigarette, die er in hastigen Zügen raucht, problemlos abschnippen kann.

Zwei Wochen das gleiche Procedere. Nach Überzeugung meines Mannes und mir: Der Mann ist Detektiv. Aber wen beschattet er? Vergeblich forschen wir nach. Bis wir in der Nähe des Parkplatzes auf eine Bekannte treffen und sie auf den „Detektiv“ aufmerksam machen, der auch heute „Wache schiebt“.

Sie stutzt einen Augenblick, dann winkt sie dem Menschen herzlich zu. Er grüßt zurück. „Das ist mein Nachbar. Seine Frau hat ihm verboten, in der Wohnung zu rauchen.“ Wird wohl nichts mit der Kriminalgeschichte.