© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 07/21 / 12. Februar 2021

„Vaterland oder Tod“
Kuba: Das sozialistische Land lädt Sonnenhungrige zum Urlaub ein – eine Entscheidung aus der Not heraus
Alessandra Garcia

Wasser tropft durch die Decke, die Klimaanlage läßt sich nicht abstellen, die wärmende Bettdecke fehlt. Gloria Caridad hebt beschwichtigend die rechte Hand mit abgespreizten Fingern und bewegt diese ganz langsam vor und zurück. Ruhe ist im Hotelfoyer erste Bürgerpflicht. Mit großen braunen Augen schaut die Mittfünfzigerin hinter ihrer Brille den Touristen verständnisvoll an, und schon greift sie zum Telefonhörer. Nur, leider, leider nimmt niemand ab.

Irgendwie hat der Fremde trotzdem das Gefühl, daß sein Problem bei der Kubanerin gut aufgehoben ist und läßt sich erleichtert in einen der tiefen Sessel fallen, wo ihm ein Cocktail oder ein Rum pur serviert wird. Leicht alkoholisiert läßt sich alles leichter ertragen. Selbst der sozialistische Charme des Hotels und das kalte Regenwetter am Sonnenstrand.

Mindestabstände will keiner einhalten

Gloria Caridad ist die Kummertante des Gran Caribe Club Kawama, einer jener ein Dutzend All-inclusive-Anlagen, die seit Mitte November auf der Halbinsel Varadero wieder Touristen empfangen. Kuba, das seine Grenzen im vergangenen März quasi über Nacht geschlossen hatte, hat den coronabedingten Lockdown aus der Not heraus beendet. 

Dem kommunistischen Land sind schlichtweg die Devisen ausgegangen. Es benötigt mangels funktionierender Landwirtschaft aber jährlich allein zwei Milliarden US-Dollar, um Grundnahrungsmittel für seine elf Millionen Einwohner einzukaufen. Geld ist auch knapp, weil die einstigen Verbündeten selbst Finanzsorgen haben. 

Selbst Rußland, dessen Präsident Putin die sozialistische Insel unlängst noch als „strategischen Partner“ bezeichnet hat, setzte aufgrund der kubanischen Zahlungsmoral Projekte im Wert von einer Milliarde US-Dollar aus, mit denen  ein Stahlwerk und mehrere Kraftwerke modernisiert sowie die Eisenbahn wiederbelebt werden sollte.

 Kleinlaut räumte Vize-Premier Ricardo Cabrisas gegenüber Moskau „einige Verzögerungen in unseren Zahlungsverpflichtungen“ ein. Schuld ist natürlich nicht die eigene Mißwirtschaft, sondern das US-Embargo plus Corona-Pandemie.

In der Abwägung zwischen Hungeraufständen und Pandemietoten hat sich die Regierung in Havanna für eine vorsichtige Öffnung für den Tourismus entschieden. 69.000 Ausländer, viele davon aus Deutschland, nutzten allein bis Ende 2020 die Chance, Urlaub am tropischen Strand zu verbringen. Für wenige Wochen war sogar das ungehinderte Reisen zwischen den einzelnen Provinzen möglich. 

Das endete am 11. Januar, als angesichts steigender Coronafälle die Regierung dem Land wieder einen radikalen Lockdown verordnete. Einzige Ausnahme: die Hotelresorts und damit die beiden internationalen Flughäfen Havanna und Varadero.

Daß etwas mit dem Land nicht stimmt, dürfte aber auch der blauäugigste Pauschalreisende mitbekommen, sobald er sein Hotel verläßt. Die meisten Restaurants sind geschlossen, die Regale in den Geschäften leer, vor Bäckereien und Banken stehen riesige Schlangen. Trotz der permanenten Angst vor Ansteckung hält niemand Mindestabstände ein, wenn die Aussicht besteht, Öl, Reis, Bohnen, Zucker oder gar Zahncreme zu erstehen.

Offenbarungseid des sozialistischen Systems

Ursache ist die zum Jahreswechsel gestartete umfassendste Wirtschafts- und Währungsreform, die die Kommunisten den Kubanern seit ihrer Machtübernahme am 1. Januar 1959 zumuten. Dazu gehören radikale Preiserhöhungen für Lebensmittel, Wasser, Strom, Gas, Treibstoff, Hygieneartikel. Auch wurde der 1994 als Ersatz für den US-Dollar eingeführte konvertible Peso (Cuc), der bisher relativ stabil im Verhältnis von 1 zu 24 zum Cuc stand, abgeschafft. 

Seitdem befindet sich der Cuc im freien Fall. Die Regierung hat zwar die Löhne und Renten verzehnfacht, aber davon sind die Regale in den Geschäften nicht voller geworden. Im Gegenteil: Nicht einmal mehr in den im Sommer landesweit neu eingerichteten Supermärkten, in denen nur bargeldlos eingekauft werden kann. Die Kunden müssen über ein Devisenkonto bei einer kubanischen oder ausländischen Bank verfügen. 

Im Prinzip haben diese MLC-Läden (Moneda Librementa Convertible) die bisherigen Cuc-Geschäfte abgelöst. Der Unterschied zum Cuc ist, daß Kubaner ohne Auslandsbeziehungen keine Chance haben, Devisen zu erwerben. Entsprechend hoch werden Dollar-, Euro- und Frankenscheine auf dem Schwarzmarkt gehandelt.

Auf der Strecke bleiben aktuell jene, die keine Arbeit haben oder lediglich die Mindestrente erhalten. Diese reicht nicht mehr dafür, um die subventionierten Grundnahrungsmittel zu bezahlen, die der Staat auf Lebensmittelkarten ausgibt. Auch hier haben sich die offiziellen Preise mehr als verzehnfacht.

Noch sind aus dem landesweiten Murren keine nennenswerten Proteste entstanden. Das hängt vor allem damit zusammen, daß die Regierung behutsam gegensteuert und einige Preiserhöhungen wieder zurückgenommen hat. Das Regime testet mit Ansage aus, wieviel es der Bevölkerung zumuten kann.

 Was Präsident Miguel Diáz-Canel als Neukonzeption der „Wirtschafts- und Sozialentwicklung des sozialistischen Modells“ bezeichnet, ist nichts anderes als eine völlige Neugestaltung des Währungs-, Wechsel-, Steuer-, Preis-, Lohn- und anderer Einkommenssysteme und letztlich der nur noch nicht ausgesprochene Offenbarungseid des sozialistischen Systems. Dieses kann auch auf Kuba nicht mehr sein Versprechen einlösen, die Grundbedürfnisse der Bevölkerung zu befriedigen. Es reicht nicht einmal mehr für diejenigen, die für Grundnahrungsmittel mit harten Dollar oder Euro zahlen würden.

Während längst im ganzen Land die Lebensmittel knapp sind, muß in der Touristenhochburg Varadero niemand hungern. Hier sind die Hotels für die Einheimischen eine unerschöpfliche Versorgungsquelle, natürlich zu Lasten der Qualität und Quantität. Denn so eintönig wie es den Fremden vorkommt, ist die Hotelküche gar nicht. 

Wer etwa mittags kein Fleisch mehr vorfindet und dieses sehr bestimmt verlangt, wird staunen, was der Küchenchef plötzlich aus seinem Reich hervorzaubert. Allerdings nur für wenige Minuten. Exakt so lange, bis der renitente Gast zufriedengestellt ist. Der steht fortan unter verschärfter Beobachtung und wird geradezu liebevoll umsorgt, damit keine anderen Touristen auf die zum privaten Verkauf gedachten Schätze aufmerksam werden.

Weniger Aufmüpfige werden von Servicefachfrau Gloria Caridad eingelullt. Sie organisiert wärmende Decken, Batterien für die Fernbedienung des TV-Gerätes, läßt einen Klempner die Toilette reparieren. Nur  der Klimaanlage kann sie nicht helfen. Dabei weiß sie genau, was passiert ist: Irgendein Haustechniker hat den Regler geklaut. Vielleicht derjenige, der an die Hotelwand groß die alte Losung: „Patria o muerte – Vaterland oder Tod“ gepinselt hat.