© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 07/21 / 12. Februar 2021

Vom Maß des Politischen
Freiheit oder Impfung: Die Empfehlung des Ethikrates wirft Fragen zum Staatsverständnis auf
Jürgen Liminski

Unterschiede hat es immer gegeben, seit Menschen diesen Planeten bevölkern. Selbst der Klon ist nicht identisch mit dem Original. Ortega y Gasset hat es in einer Definition über Identität einmal so formuliert: Yo soy yo y mis circunstancias – ich bin ich plus meine Umstände. Die Umstände variieren, deshalb gibt es nur biologisch oder genetisch eine hundertprozentige Kopie, das Leben aber formt mit und ändert.

Die Unterschiede der Menschen machen sich auch in der Pandemie bemerkbar. Die persönlichen Immunsysteme und klinischen Umstände erhöhen oder verringern die Heilungschancen. Das Coronavirus ist in seiner Wirkung individuell, mithin unberechenbar; es kann Junge treffen und töten, und ein Hundertjähriger ist neulich geheilt wieder nach Hause gefahren. Alles hängt von den Immunkräften des Individuums ab.

Die Impfung stützt dieses Immunsystem, bei dem einen mehr, dem anderen weniger. Unter dem Strich soll der Geimpfte aber immun sein, eine letzte Sicherheit gibt es nicht. Dafür fehlen ausreichend Erfahrungen, etwa wie lange die Wirkung anhält. Diese Erkenntnisse kann es noch nicht geben, die Impfstoffe sind erst ein paar Monate alt, Geimpfte gibt es erst seit einigen Wochen. Ob sie die Infektion übertragen können oder wann von ihnen wieder eine Gefahr ausgeht, läßt sich nach heutigem Stand nicht mit Sicherheit sagen. 

Auf dieser Unsicherheit gründet die Empfehlung des Deutschen Ethikrates, Geimpfte nicht früher als andere in den Genuß der Grundrechte kommen zu lassen. Die Impfung wird so zum Maß der Gleichheit vor dem Gesetz und soll eine drohende Zweiklassengesellschaft verhindern. Dieses Denken ist nicht ungefährlich. Das Maß ist die Würde. Manche sprechen in dieser merkwürdig verzerrten Debatte sogar von Privilegien. Aber eines sollte in einem freiheitlichen System klar sein: Grundrechte sind kein Privileg, sie stehen jedem Menschen zu, weil sie unabhängig von den politischen Gegebenheiten und Systemen in der Würde des Menschen gründen.

Wenn deshalb von Geimpften nachweislich keine Gefahr mehr ausginge, müßten sie ihre Freiheits- und Grundrechte wieder in Anspruch nehmen dürfen. Alles andere wäre verfassungswidrig. Das hat mit Zweiklassensystem nichts zu tun. Auch die Empfehlung des Ethikrates, Geimpften die Grund- und Freiheitsrechte vorzuenthalten, nur weil das Gesundheitssystem zu stark überlastet zu werden droht, wäre verfassungswidrig. Es ist der Rekurs auf die Unsicherheit des Impfstoffs, die dem Ethikrat den Vorwurf des Verfassungsbruchs noch erspart und seine Empfehlung rechtfertigt. 

Und ein zweites sollte auch klar sein: Kein Grundrecht existiert im luftleeren Raum, sozusagen absolut. Nur eins, das erste, kann vielleicht diesen Anspruch erheben und das auch nur, weil es so abstrakt ist: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Bei allen Grundrechten wird ihre Geltung durch Gesetze umhegt, eingeschränkt, geregelt. Bei der Pressefreiheit sind es Persönlichkeitsrechte, der Artikel 5 GG sagt es sogar in Absatz 2: „Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre.“ Oder Artikel 2, Absatz 2: „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.“ Es gibt sozusagen permanent Eingriffe und die Frage ist, ob diese Eingriffe verhältnismäßig sind und für welchen Zeitraum die Eingriffe in Kraft sind. Das gilt auch für das Infektionsschutzgesetz. 

In dieser Grauzone bewegen sich Politik und Ethikrat. Und hier lauert eine Gefahr. Die von vielen Medien angeheizte Corona-Panikstimmung kann zu einer dauerhaften Schädigung des Rechtsbewußtseins führen. Zum Beispiel, wenn man Grundrechte als Privilegien betrachtet. Oder wenn die Kanzlerin von „neuen Freiheiten“ spricht. Oder wenn man aus der Gleichheit als Maß aller Dinge eine Impfpflicht ableitet. Grundrechte sind nicht neu, sie sind auch nicht rechtfertigungsbedürftig. Der Gleichheitsgrundsatz, der oft vor Gericht und in der Politik angeführt wird, kann nur zur Geltung kommen, wenn er dem Schutz Dritter dient. Wer daraus eine Impfpflicht ableitet, offenbart, daß ihm freiheitliches Denken fremd ist. Der Schutz Dritter liefe als Begründung bei immunsicher Geimpften ins Leere. Nun können aber selbst immunsicher und ansteckungsfrei Geimpfte – was, wie gesagt, eine Spekulation ist – ihre Rechte gar nicht wahrnehmen. Restaurants, Bars, Museen sind geschlossen, Konzerte, Opern und Theater finden weitgehend digital statt. Allerdings läßt der Ethikrat eine Hintertür auf, indem er die Vertragsfreiheit im privaten Raum den Privatleuten überläßt. Hier ist die Grauzone, hier tanzt der Bär und „tobt“ die Debatte. 

Um diesen hybriden Rechts- und Diskussionsstand zu beenden, wäre es ratsam, daß möglichst schnell möglichst viele Menschen geimpft werden, und zwar aus zwei Gründen: Erstens verringert es die Wahrscheinlichkeit der Ansteckung. Es gilt, die Herdenimmunität zu erreichen, weil es im Moment keinen anderen Weg gibt, trotz der Zweifel an der Impferei. Das geht, folgt man den Umfragen zur Impfwilligkeit, auch ohne Pflicht und Zwang. Es fehlt nur der Impfstoff. Hier hat die EU-Kommission versagt, weil sie zu geizig, zu ideologisch und zu spät in Aktion trat.

Zweitens ermöglicht es die Rückkehr zu einem Diskurs der Vernunft. Es muß möglich sein, über die Sinnhaftigkeit von Corona-Maßnahmen zu diskutieren, ohne gleich als Leugner oder Verschwörer geächtet zu werden. Was jede argumentative Diskussion oder Abwägung erheblich stört, ist Panikmache, zum Beispiel die der öffentlich-rechtlichen Medien. Die Demoskopin Elisabeth Noelle-Neumann hat die öffentliche Meinung mal als die „soziale Haut“ der Gesellschaft bezeichnet. Die Öffentlich-Rechtlichen erzeugen vor allem Gänsehaut, und das im Brustton der Überheblichkeit. Hier ist die Zweiklassengesellschaft schon real existent.

In der Politik drehen zu viele mit geschwellter Brust mit am großen Rad der Gefühle. Es ist schlicht wohlfeil, mit bayerischer Löwenmähne, ernster Miene und fernem Blick vor der Kamera Versatzstücke zum Besten zu geben wie „nicht überstürzt“ in einen „Lockerungswettlauf“ gehen, oder „Sicherheit ist das Wichtigste“. Da wird niemand widersprechen, und die Umfragewerte steigen. Ob auch der Freiheit und den naturgegebenen Unterschieden der Menschen in diesem Land sowie dem Wettbewerb und Wohlstand gedient ist, ist eine Frage des Staatsverständnisses, mithin künftiger Lebenskultur. Das halbgare Dokument des Ethikrats hilft hier nur begrenzt weiter.