© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 07/21 / 12. Februar 2021

Ein Bedürfnis nach Selbstbestrafung
Regierungsbilanz im Vergleich zur Kohl-Ära: Unter Angela Merkel steht die nationale Existenz zur Disposition
Thorsten Hinz

Am 27. September 1997 veröffentlichte der Freiburger Politikwissenschaftler Wilhelm Hennis (1923–2012) in der FAZ einen Essay mit der dramatischen Überschrift „Totenrede des Perikles auf ein blühendes Land“. Der Titel bezog sich auf eine Gedenkrede des großen griechischen Feldherrn, in der das Selbstverständnis der überlegenen athenischen Demokratie zusammengefaßt ist. Thukydides hat sie in seiner „Geschichte des Peloponnesischen Krieges“ überliefert. Die Unterzeile des Zeitungsartikels klang bedeutend nüchterner: „Ursachen der politischen Blockade“. 

Hennis überprüfte den Ertrag der Wiedervereinigung und zog nebenbei eine Bilanz der Kanzlerschaft Helmut Kohls, der zu dem Zeitpunkt fast auf den Tag genau seit 15 Jahren regierte. Ein weiteres Jahr sollte noch folgen.

Hennis konstatierte, daß Deutschland „stagniert, kaum politik-, geschweige denn reformfähig ist“. Das Land käme „mit der radikalen Veränderung der Umstände seit 1990“ nicht zurecht. Der deutsch-deutsche Einigungsvertrag sei zwar eine „administrative Meisterleistung“ gewesen, doch habe das Eilverfahren für ein falsches Bewußtsein gesorgt. Die politische Klasse und die Öffentlichkeit hätten nicht begriffen, daß das vereinte Land mehr sei als die Vergrößerung der Bundesrepublik. „Unser Umgang mit den neuen Umständen unserer nationalen und staatlichen Existenz ist vorerst noch zutiefst ideologiegetränkt ...“ 

Konkret sprach Hennis die obsessive Fixierung auf „Europa“ an. Man könne „nicht am Dach Europas arbeiten, solange kein solides politisches Fundament gelegt ist“. Deutschland wolle in einem geeinten Europa dem Frieden in der Welt dienen, doch sei das nur möglich, „wenn dabei seine nationale und staatliche Einheit, seine Handlungsfähigkeit, die Klarheit seiner nationalen Ziele und Interessen gewahrt bleiben“. Die Bundesrepublik sei im Begriff, „Merkmale deutscher Staatlichkeit zu verspielen“. Hennis zählte den Wirtschaftsstandort, den Sozial- Beamten- und Rechtsstaat sowie das Kultur- und Bildungswesen auf und fragte bang: „Gerät dies Land außer Balance?“

Konfliktverdrängung kommt der Mehrheit entgegen

Die Gründe für die politische Blockade machte er in den übergriffigen Parteien aus, die den Staat vereinnahmt hätten. Ein zusätzliches Verhängnis sah er in dem auf Patronage abgestellten „System Kohl“, „eine sich völlig verheddernde, von Ämtern auf Personen umgestellte, radikal parteienstaatliche und personalisierte Herrschaftsweise“. Von der überstürzten Europapolitik abgesehen, gäbe es keine mit Kohl identifizierbare Regierungspolitik. Zum Schluß räumte Hennis ein, daß Kohls Konfliktverdrängung den Wünschen der Mehrheit entgegenkomme. Die Deutschen hätten seit dem Dreißigjährigen Krieg einfach zu viele „Aufbrüche“ erlebt, um sich nach einem neuen Aufbruch zu sehnen.

Der Aufsatz war ein publizistischer Paukenschlag. Damals. Mit dem Abstand von fast 24 Jahren liest man diesen Appell an die politische Vernunft mit einer gewissen Rührung. Er klingt vorgestrig, idyllisch, bieder, die Begriffe und Kategorien, mit denen Hennis gearbeitet hatte, beziehen sich auf eine Wirklichkeit, die versunken ist.

Unter Angela Merkel stehen nicht mehr nur die Merkmale deutscher Staatlichkeit, sondern die nationale Existenz schlechthin zur Disposition: politisch, geistig-kulturell, sozial, gesellschaftlich und spätestens seit der Grenzöffnung 2015 auch ethnisch. Wobei Merkel im Unterschied zum omnipräsenten „Pfälzer Riesen“ als Person und Charakter kaum greifbar ist. Sie erscheint als ein bloßes Medium und Katalysator kollektiver Dekomposition. Auch damit scheinen die Deutschen mehrheitlich einverstanden zu sein. Bei den letzten Bundestagswahlen erhielt der merkelaffine Parteienblock gut 87 Prozent der Stimmen.

Die Erklärungen dafür lauten: Infantilismus, Regression, postmoderne Ironie, die Manipulationen durch die Bewußtseinsindustrie. Das alles trifft zu, aber gewöhnlich finden geistige Verirrungen dort ein Ende, wo der physische Selbsterhalt in Gefahr gerät. Der elementare Lebensinstinkt gebietet dann die Zusammenfassung aller verfügbaren Energien zu einer letzten, entscheidenden Kraftanstrengung. Auch beschränkt sich die Selbstaufgabe nicht auf Deutschland. Ganz Westeuropa ist davon erfaßt, was den Historiker Walter Laqueur bereits vor 15 Jahren veranlaßte, in einem Buch „Die letzten Tage von Europa“ zu beschwören. Das post-imperiale Großbritannien und Frankreich – immerhin Atom-Siegermächte des Zweiten Weltkriegs – sind genauso betroffen wie die kleinen Niederlande und das neutrale Schweden. 

Darin kann man den Beleg für Spenglers These sehen, daß in den Hochzivilisationen „eine bis zum äußersten gesteigerte Intelligenz keine Gründe für ihr Vorhandensein mehr findet“ und der Fellachisierung ihrer Lebenswelt zustimmt. Laqueur allerdings nannte als Grund für die Selbstaufgabe das schlechte Gewissen der Europäer, die sich in den 1930er Jahren den Flüchtlingen aus Deutschland verweigert hätten. Inzwischen ist auch das schlechte Gewissen des „weißen“ Amerika zu einem bestimmenden politischen Faktor geworden. Untersuchungen haben ergeben, daß Weiße, die überdurchschnittlich eine „weiße Schuld“ empfinden, sich erfreut zeigen, daß die USA ihre weiße Mehrheit verlieren. Die viel kritisierte Schuldfixierung der Bundesrepublik hat ihre Exklusivität verloren. Sie erscheint im Rückblick als ein avantgardistischer Akt.

Freud kommt auf den Schuldkomplex zu sprechen

Aufschlußreich in dem Zusammenhang ist ein Blick in die Schriften Sigmund Freuds. 1915 schrieb er, der Weltkrieg habe die zivilisatorischen Bestände, die man gesichert geglaubt hatte, aufgehoben. Der „Kulturweltbürger“ stehe „ratlos (…) in der ihm fremd gewordenen Welt, sein großes Vaterland zerfallen, die gemeinsamen Besitztümer verwüstet, die Mitbürger entzweit und erniedrigt“. Doch seien diese Besitztürmer eine Illusion gewesen. Der „Urmensch“ sei nie aus der Welt verschwunden gewesen; im Krieg streife er seine Hüllen ab. 

Interessanterweise kommt Freud dann auf den Schuldkomplex zu sprechen. Die Geschichte, die man in den Schulen lehre, sei eine Aneinanderreihung von Völkermorden. Daher stehe die Menschheit unter einem „dunkle(n) Schuldgefühl (…), das sich in manchen Religionen zur Annahme einer Urschuld, einer Erbsünde, verdichtet hat ...“ Das gilt zumal für das Christentum, das zu einer säkularen Schuldideologie prädestiniert.

In dem 1930 veröffentlichten Aufsatz „Das Unbehagen in der Kultur“ hat er die Thematik vertieft. Er sah in der Gesellschaft die Überzeugung um sich greifen, daß „wir viel glücklicher (wären), wenn wir (die Kultur) aufgeben und in primitive Verhältnisse zurückfinden würden“. Es müsse also neben dem Trieb zum Selbsterhalt „einen anderen, ihm gegensätzlichen, geben“, den „Todes-trieb“, der „als Trieb zur Aggression und Destruktion zum Vorschein komme“.

Freud entwickelte eine atemberaubende Dialektik: Die Neigung zur Destruktion finde in den kulturellen Regeln und Überlieferungen ihr stärkstes Hindernis. Und zwar schicke sie die Aggression an den zurück, der sie aussende. Das Individuum (oder das Kollektiv) verinnerliche sie, das heißt, sie wird „von einem Anteil des Ichs übernommen, das sich als ‘Über-Ich’ dem übrigen entgegenstellt, und nun als ‘Gewissen’ gegen das Ich dieselbe strenge Aggressionsbereitschaft ausübt, die das Ich gerne an anderen, fremden Individuen befriedigt hätte“. Die Spannung zwischen dem Ich und dem gestrengen Über-Ich der Kultur würde sich als „Schuldbewußtsein“ entladen, aus dem ein „Strafbedürfnis“ folge. So entwaffnet die Kultur das Ich und läßt es durch das Über-Ich „wie durch eine Besatzung in der eroberten Stadt überwachen“. Diesem Über-Ich gesteht Freud eine sadistische Wirkung zu, während das Strafbedürfnis eine masochistische Dimension besitzt, die „zur inneren Destruktion“, zur Selbstzerstörung führt.

Jahrzehnte später kommt die europäische („weiße“) Zivilisation nach quälender Selbstprüfung zu dem Schluß, daß sie in der Vergangenheit den Maßstäben ihrer Kultur nicht gerecht geworden ist. Schuldbewußt, moralisch entwaffnet, angekränkelt durch Dekadenz und demographisch in der Defensive, verwendet sie unter dem Druck des kulturellen „Über-Ichs“ die letzten vitalen Energien statt zur Verteidigung des Selbsterhalts zur Selbstbestrafung. Die Aussicht, das die proklamierte schöne neue Welt gar nicht schön sein und auch in moralischer Hinsicht auf einen primitiveren Stand absinken wird, stellt kein Hindernis dar, im Gegenteil. Die Zerstörung der eigenen Kultur befreit von dem Druck, den ihr Über-Ich ausübt.

„Die Schicksalsfrage der Menschenart scheint mir zu sein, ob und in welchem Maße es ihrer Kulturentwicklung gelingen wird, der Störung des Zusammenlebens durch den menschlichen Aggressions- und Selbstvernichtungstrieb Herr zu werden“, schreibt Freud. Gemeint ist die „weiße Menschenart“. Um die politischen Probleme zu erfassen, mit denen sie sich plagt, muß man diesen metapolitischen und tiefenpsychologischen Hintergrund mitbedenken.