© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 07/21 / 12. Februar 2021

Derselbe Himmel, verschiedene Bilder
Literatur: „Die Dame mit der bemalten Hand“ schildert eine Begegnung zwischen Abend- und Morgenland
Dietmar Mehrens

Für Christine Wunnicke kam es im vorigen Jahr ganz dicke. Erst schaffte es ihre Erzählung „Die Dame mit der bemalten Hand“ in die Endausscheidung bei der Wahl zum besten Roman des Jahres. Und am letzten November-Wochenende wurde ihr von der Stadt Braunschweig und dem Deutschlandfunk der mit 30.000 Euro dotierte Wilhelm-Raa-be-Preis verliehen, eine der bedeutendsten literarischen Auszeichnungen hierzulande.

„Fremdheit fasziniert mich“, bekennt die scheue Einsiedlerin aus München, die von ihrem Schreibtisch aus die Welt erkundet und dabei vorzugsweise in die Vergangenheit reist. Für ihr neues Buch „Die Dame mit der bemalten Hand“ verließ sie ihr Schneckenhaus, um sich in Niedersachsen auf die Spuren von Carsten Niebuhr (1733–1815) zu begeben, einem Forschungsreisenden, der 1760 als Kartograph Teil eines sechsköpfigen Expeditionskorps nach Arabien aufbrach und als einziger lebend zurückkehrte.

Den Stoff verwob sie zu einer Geschichte, in der es um eine Kulturgrenzen überschreitende Begegnung zwischen Ost und West, zwischen einem persischen und einem deutschen Astronomen, geht und darum, daß diesem, Niebuhr, von jenem, Musa al-Lahuri, das Leben gerettet wird. Beide hat es auf die vor Mumbai gelegene Insel Elephanta verschlagen, wo sie gemeinsam auf das nächste zufällig vorbeikommende Schiff warten.

Auf der Insel gibt es eine (noch heute zu besichtigende) verfallene hinduistische Tempelanlage, die das Forschungsinteresse des Deutschen geweckt hat. Als Musa bei seiner Inselerkundung die Höhle mit dem Heiligtum betritt, bricht Niebuhr, vom Sumpffieber geschwächt, vor ihm zusammen. Der Perser pflegt ihn gesund und wünscht sich als Gegenleistung, etwas mehr über den Mann aus dem Abendland zu erfahren, doch anders als sein Retter ist der „Mathematikus“ aus Lüdingworth-Westerende ein eher spröder Typ und kein geselliger Geschichtenerzähler. Am Ende ist es daher vor allem Musa selbst, der erzählt – sehr zum Vorteil einer an fernen Gestaden und kulturgeschichtlichem Neuland interessierten Leserschaft. 

Ihren Titel verdankt die Erzählung dem Austausch der beiden Himmelsforscher über das von der Tempelruine aus per Teleskop beobachtete Sternbild der Kassiopeia. „Ihr seht das ganze Weibsbild in den paar Sternen“, wundert sich Musa. „Wir sehen dort nur ihre bemalte Hand.“ Den Mathematiker von der Waterkant läßt die Autorin daraufhin ihre Eine-Welt-Botschaft ausrichten: „Wir glotzen alle in denselben Himmel und sehen verschiedene Bilder.“

Ergänzend werden antikoloniale Klischees bedient, indem etwa der Theologe und „empirische Exeget“ Johann David Michaelis, auf dessen Initiative die Expedition zustande kam, als blasierter Ethnozentrist dargestellt wird, dessen Vorurteile dann später der lebenskluge Musa Lügen strafen darf.

In suggestiver Diktion dockte Buchpreis-Jurorin Katharina Bor-chardt an das dargebotene Narrativ an und lobte, daß die Autorin „Migration einmal andersrum“ erzähle. Wer heute aus Afrika nach Europa kommt, soll das wohl heißen, den treibt ebenfalls vor allem Neugier an. Aber das sind die üblichen rhetorischen Finten, für die Literatur immer schon mißbraucht wurde und über die man einfach hinwegsehen sollte.

Christine Wunnickes Buch hat neben diesen Schwächen eine große Stärke. Das ist die wunderbare Gabe der Autorin, Charaktere und Schauplätze „sehr souverän und total verführerisch“, so die Frankfurter Jury, sprachlich zum Leben zu erwecken. Elephanta und die Höhle mit dem Shiva-Tempel schildert sie in einer Weise, daß der Leser am Ende beinahe glaubt, selbst ein paar Stunden auf der feuchtheißen Insel im Arabischen Meer verbracht zu haben.

Christine Wunnicke: Die Dame mit der bemalten Hand. Roman. Berenberg Verlag, Berlin 2020, gebunden, 168 Seiten, 22 Euro