© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 07/21 / 12. Februar 2021

Rassismusvorwürfe gegen Immanuel Kant: Philosophen streiten um die Deutungshoheit
Dabei wird es nicht bleiben
Björn Schumacher

Der „Antirassismus“ ist jenes Problem, als dessen Lösung er sich feiert. Längst hat der zivilreligiöse Furor Politik, Medien und Universitäten erreicht. Konservative oder wirtschaftsliberale Autoren kriegen in deutschen Hörsälen, Rundfunk- und Verlagsanstalten kaum eine Plattform („Deplatforming“) oder werden durch Boykotte an der Weitergabe ihrer Thesen gehindert („Cancel Culture“). Zerstört werden auch Statuen historischer Gestalten, die in der jakobinerhaften Vorstellungswelt der Täter Bezüge zum „Rassismus“ haben.

Das Ganze erinnert an 1968. „Unter den Talaren Muff von tausend Jahren“ krakeelten radikalisierte Studenten, die sich von der Frankfurter Schule um Adorno, Horkheimer und Habermas inspiriert fühlten. Neu ist, daß sich – wieder in Frankfurt – antirassistisches Aufbegehren gegen eine Lichtgestalt abendländischer Philosophie richtet: Immanuel Kant, den Schöpfer des kategorischen Imperativs und Urvater des ethischen Universalismus. „Kant – ein Rassist?“, lautet der Titel einer Online-Diskussionsreihe der Johann-Wolfgang-von-Goethe-Universität im Wintersemester 2020/21.

Der provozierende Titel hat allerdings eine gewisse Substanz. Wiederholt hat Kant (1724–1804) fremde Völker aufgrund ihrer Hautfarbe pauschal herabgesetzt, etwa in der „Physischen Geographie“ von 1802, keiner eigenhändig verfaßten, aber offenbar mit seiner Billigung unter seinem Namen publizierten Vorlesungsnachschrift: „Die Menschheit ist in ihrer größten Vollkommenheit in der Race der Weißen. Die gelben Indianer haben schon ein geringeres Talent. Die Neger sind weit tiefer, und am tiefsten steht ein Theil der amerikanischen Völkerschaften.“

Ähnliche Hierarchien entwarf Kant in seinem Essay „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen“ (1764), wo es unter anderem heißt: „Allein kurzum, dieser Kerl [ein Negerzimmermann] war vom Kopfe bis auf die Füße ganz schwarz, ein deutlicher Beweis, daß das, was er sagte, dumm war.“ Erwähnt sei auch der Aufsatz „Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien“ (1788). „Unverbildet“ und widersprüchlich zugleich doziert Kant: „Die Einwohner Amerikas sind unfähig zu aller Cultur“, weshalb diese „Rasse … noch tiefer unter dem Neger selbst steht, welcher doch die niedrigste unter allen Stufen einnimmt“.

Wurde Kant jahrhundertelang fehlinterpretiert? War er unter dem Deckmantel seines ethischen Universalismus eine Speerspitze der Gegenaufklärung, ein einsamer „Wutbürger“ im Kampf gegen die politische und philosophische Moderne? Die Antwort klingt unspektakulär. „Natürlich ist Kant hier Kind seiner Zeit“, schreibt der Philosoph und Kant-Forscher Marcus Willaschek, Initiator der Frankfurter Diskussionsveranstaltung. Und weiter: „Der herabsetzende Blick auf Menschen anderer Hautfarbe ist ein im 18. Jahrhundert wie heute weitverbreitetes Phänomen, von dem selbst ein scharfsinniger Kritiker wie Kant sich nicht freimachen konnte.“

Der kategorische Imperativ wäre ohne inhaltliche Anreicherung noch kein Bollwerk gegen Rassismus. Wolff hebt daher Kants Universalismus hervor mit dem Grundsatz, daß es ein ursprüngliches, jedem Menschen kraft seiner Menschheit zustehendes Recht gibt.

„Herabsetzende Blicke“ und Rassenhierarchien lieferten damals auch der schwedische Naturforscher Carl von Linné, sein deutscher Fachkollege Lorenz Oken sowie der Göttinger Anthropologe Johann Friedrich Blumenbach. Der Maler, Arzt und Naturphilosoph Carl Gustav Carus unterschied zwischen „Tagvölkern“ und „Nachtvölkern“, bei denen er ein starkes Gefälle geistiger Begabung zu erkennen glaubte. Prominente „Rassentheoretiker“ des 19. Jahrhunderts waren der Evolutionsforscher Charles Darwin (JF 5/21) und der Soziologe Max Weber, der 1895/96 über den „ewigen Kampf um die Erhaltung und Emporzüchtung unserer nationalen Art“ räsonierte und öffentlich erklärte: „Wir haben die Polen aus Tieren zu Menschen gemacht.“

Das Bemühen, einen differenzierten Blick auf den Königsberger Philosophen zu werfen, kann man Willaschek nicht absprechen. Sein scharfkantiges Verdikt „Kant war sehr wohl ein Rassist“ (FAZ, 23. Juni/15. Juli 2020) schwächt er alsbald wieder ab. Der große Gelehrte sei „kein Vordenker des Kolonialismus oder gar der nationalsozialistischen Rassenideologie“ gewesen. Wissenschaftliche Autorität impliziere nicht Unfehlbarkeit: „Kant war kein moralisches oder philosophisches Orakel; die Lektüre seiner Schriften ersetzt nicht eigenes Denken und Urteilen.“

Dennoch erntete Marcus Willaschek Kritik. Heftig widersprach der Philosoph Michael Wolff, der seinem Fachkollegen ein ebenso plakatives „Kant war ein Anti-­Rassist“ entgegensetzte (FAZ, 9. Juli 2020). Er bezweifelt die Urheberschaft Kants an der „Physischen Geographie“ von 1802, stört sich vor allem an der synonymen Verwendung der Begriffe Gattung und Rasse und hebt hervor, daß Kant von einem solchen Sprachgebrauch seit seiner Schrift „Von den verschiedenen Racen der Menschheit“ (1775) dauerhaft abgerückt sei.

Werfen wir einen Blick auf die Grundzüge von Kants Ethik. Sie ist eingebettet in die Unterscheidung zwischen empirischer und reiner Philosophie, von denen die erste „sich auf Gründe der Erfahrung fußt“, während die zweite „lediglich aus Prinzipien a priori ihre Lehren vorträgt“ („Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ = GMS, 1785). Damit korrespondiert der Kantsche Dualismus von phänomenaler (empirischer) und noumenaler (reiner) Welt. Da empirische Naturbeobachtung, so Kant, immer nur von einem (speziellen) Phänomen zum nächsten schreite und daraus keine (generelle) Gesetzmäßigkeit abgeleitet werden könne, ließen sich allgemeingültige Gesetze der Ethik beziehungsweise Sittlichkeit (Sittengesetze) nur in der reinen, noumenalen Vernunft aufspüren.

Aus dieser von empirischen Wahrnehmungen abgekoppelten Vernunft gewinnt Kant neben den Begriffen „guter Wille“ und Pflicht einen „kategorischen Imperativ“, der in seiner ersten und bekanntesten „Vorstellungsart“ lautet: „Handle nur nach derjenigen Maxime, von der du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde“ (GMS). Dieser Imperativ wurde als „rein formal“, das heißt inhaltsleer gescholten. Zu Unrecht: Er erklärt erstens die Widerspruchsfreiheit und zweitens die Verallgemeinerungsfähigkeit zu notwendigen Bedingungen einer gültigen moralischen Norm.

Ohne inhaltliche Anreicherung wäre dieser Imperativ aber noch kein Bollwerk gegen Rassismus. Wolff greift daher auf Kants Einsicht zurück, daß alle Menschen „zu einer und derselben Naturgattung“ gehören, „weil sie durchgängig miteinander fruchtbare Kinder zeugen, …. so große Verschiedenheiten auch sonst in ihrer Gestalt mögen an-getroffen werden“. Folgerichtig bemerkt er: „Zu Kants Universalismus gehört der Grundsatz, daß es ein ‘ursprüngliches, jedem Menschen kraft seiner Menschheit zustehendes Recht gibt’. … Dieser Grundsatz schließt Rassendiskriminierung aus.“ Tatsächlich hat sich Kant in seinem Alterswerk „Metaphysik der Sitten“ (MS, 1797) gegen den Kolonialismus gewandt, „diese Art der Erwerbung des Bodens“ als „verwerflich“ kritisiert und alle Versuche, sie nach dem Grundsatz „Der Zweck heiligt die Mittel“ zu rechtfertigen, als „Jesuitism“ angeprangert. Offenbar war er kein Freund des Jesuitenordens.

Die Klassifizierung Kants als „Rassist“ muß befremden. Der zu seinen Lebzeiten unbekannte Begriff wird mehr und mehr zum politischen Kampfinstrument. Er sollte zunächst einer gründlichen semantischen Analyse zugeführt werden. 

Wertungswidersprüche in Kants Werk bleiben dennoch bestehen. Zwar ist sein Begriff der Menschenrasse nicht als empirischer Begriff, sondern als „Idee“ der reinen Vernunft konzipiert. Kants pauschal abwertende Sätze über nicht-weiße Völker können aber kaum dieser Vernunft entsprungen sein. Tun sie auch nicht. Sie beruhen auf Reiseberichten des spanischen Gelehrten Antonio de Ulloa, laut Kant „ein vorzüglich wichtiger Zeuge“ mit profundem Wissen über den amerikanischen Doppelkontinent, und sind eindeutig empirischer Herkunft.

Haben wir es also mit einem doppelten Immanuel Kant zu tun? Steht dem universalistischen Philosophen der reinen, praktischen Vernunft ein mit derben Parolen die „Stammtische“ des 18. Jahrhunderts aufwiegelnder, vernunftbefreiter Empiriker gegenüber? Die Frage mag überspitzt klingen; einen berechtigten Kern hat sie allemal, und es wirkt verblüffend, daß sie in der jetzigen Schärfe zuvor nie gestellt wurde. Auch antisemitische Ausfälle Kants sollten nicht unter den Tisch fallen. Juden prangerte er als „Vampyre der Gesellschaft“ und „Nation von Betrügern“ an („Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“, 1797). Hinzu kommt sein nach heutigem Moralkonsens kaum akzeptables Lob der Todesstrafe. Deren Gegnern bescheinigte der auf Vergeltung pochende Kant „teilnehmende Empfindelei einer affektierten Humanität“ (MS, 1797).

Was steckt dahinter? Bemühte sich der Königsberger Philosoph, durch Einstreuen humanitätsferner Inhalte die 1788 im Königreich Preußen geschaffene Zensurbehörde zu besänftigen und von liberalen Konsequenzen seines ethischen Universalismus abzulenken? Das könnte zumindest für seine Veröffentlichungen nach 1788 gelten. Eine weitere Erklärung mag in der evolutionären Grundausstattung liegen, die spontane Ablehnungen und Abwertungen des Andersartigen umschließt und vor außergewöhnlichen Denkern keineswegs haltmacht. Obendrein hatte Kant im Preußen des 18. Jahrhunderts kaum eine Gelegenheit, seine Vorurteile durch Kontakte mit Angehörigen fremder Völker zu korrigieren.

Vor diesem Hintergrund muß die Klassifizierung Kants als „Rassist“ befremden. Der zu seinen Lebzeiten unbekannte Begriff wird mehr und mehr zum politischen Kampfinstrument. Er sollte zunächst einer gründlichen semantischen Analyse zugeführt werden, damit die Debatte „mit klaren Begriffen ausgerüstet“ (David Hume) weitergehen kann (dazu Mathias Pellack, „Er, Kant, der Rassist“, JF 50/20).

Thomas Sowell, afroamerikanischer Ökonom und Historiker, bringt es auf den Punkt: „Das Wort Rassismus ist wie Ketchup, man kann es auf alles draufschmieren; und wenn man nach Beweisen fragt, macht einen ebendies zum ‘Rassisten’.“ Wer das bezweifelt, sollte sich mit den Dogmen der sogenannten Critical Race Theory befassen – ein Sammelsurium wirrer, unausgegorener Gedankenfetzen. Auch wenn Marcus Willaschek fordert, Kant nicht aus geisteswissenschaftlichen Diskursen zu verbannen, steht zu befürchten, daß ein bildungsferner, fanatisierter „Studierenden“-Mob genau das anstreben wird.

Dabei wird es nicht bleiben. Der Frankfurter Sozialphilosoph und frühere Habermas-Schüler Axel Honneth hat schon beizeiten die Richtung vorgegeben. Beim Festakt der Stadt Stuttgart zum 250. Geburtstag Georg Wilhelm Friedrich Hegels (1770–1831) rügte er „rassistische“ Äußerungen des großen Dialektikers. Dieser habe maßgebend zur Schaffung einer Legitimationsressource für den neuzeitlichen Kolonialismus beigetragen.






Dr. Björn Schumacher, Jahrgang 1952, ist Jurist. Bekannt wurde er durch die Studie „Die Zerstörung deutscher Städte im Luftkrieg“ (Graz 2008). Auf dem Forum schrieb er zuletzt über die Verdrängung moderner Wissenschaft durch Zivilreligion („Rückwärts in die Zukunft“, JF 2/20).

Foto: Ein Kant-Denkmal in der Nähe der Könisberger Immanuel-Kant-Universität, mit Farbe besudelt: „Das Wort Rassismus ist wie Ketchup, man kann es auf alles draufschmieren“