© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 08/21 / 19. Februar 2021

Das Elend der vierten Gewalt
Medien: Die Bewußtseinsindustrie zielt darauf ab, existierende Herrschaftsverhältnisse zu verewigen
Thorsten Hinz

Im Corona-Jahr haben sich scheinbare Gewißheiten ins Reich der Illusionen verflüchtigt. So auch  die Gewißheit unveräußerlicher Grundrechte, die einem Staatsbürger voraussetzungslos zustehen, weil es eben Grundrechte sind. Wir lernen nun, daß wir sie uns erst verdienen müssen: durch Gehorsam gegenüber der Obrigkeit, die ihre Ratschlüsse aus dem Inzidenzwert – ein Wort, das bis vor kurzem kein Normalsterblicher kannte – herleitet, den sie im übrigen flexibel, gemäß ihren undurchsichtigen Wünschbarkeiten handhabt.

Als illusionär herausgestellt hat sich auch die Gewaltenteilung, das Gleichgewicht zwischen Exekutive, Legislative und Judikative, das eine Zusammenballung von Macht und damit ein selbstherrliches, potentiell diktatorisches Durchregieren verunmöglichen soll. Die Legislative hat sich als Akklamationsforum einer im Grundgesetz nicht vorgesehenen Runde aus Kanzlerin und Ministerpräsidenten, vulgo als Quasselbude, disqualifiziert, die nicht einmal Unterhaltungswert bietet. 

Die Justiz setzt den staatlichen Maßnahmen hin und wieder Grenzen, doch gerade ist Stephan Harbarth, bis 2018 stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und aktuell Präsident des Bundesverfassungsgerichts, mit dem NS-Vorschlaghammer dahergekommen, um der Rede von der „Corona-Diktatur“ und vom Widerstandsrecht den definitiven Garaus zu machen. Wer so rede, „relativiert die Naziherrschaft und diffamiert die beste Republik unserer Geschichte“. Nun, viele republikanische Vergleichsmöglichkeiten auf deutschem Boden existieren nicht, und selbst die „beste Republik“ ist nichts Statisches. Wenn Innenminister Horst Seehofer – wie jetzt bekannt wurde – seinen Staatssekretär beim Robert-Koch-Institut und anderen Bundeseinrichtungen ein Corona-Schock-Gutachten anfordern ließ, das „mental und planerisch“ die Voraussetzungen schafft, um „Maßnahmen präventiver und repressiver Natur“ vorzubereiten, dann wirkt Harbarths Erklärung, es werde versucht, „mit rechtsstaatlichen Mitteln einer sehr großen Bedrohungslage entgegenzuwirken“, beinahe wie die Ausflucht eines Winkeladvokaten. Dann ist es höchste Zeit zu fragen: Was passiert gerade mit diesem Land?

Diese Frage wird nur in randständigen Foren gestellt. Das Elend der drei klassischen wird nämlich durch die Misere der informellen vierten Gewalt, der Medien, komplettiert, die sich als Transmissionsriemen der Exekutive betätigen. In einem Papier des Innenministeriums vom März 2020 wurde eine „deutschlandweite und transparente Aufklärungs- und Mobilisierungskampagne“ gefordert. Zur gleichen Zeit entwarf das „Recherchezentrum“ Correctiv, ein „stiftungsfinanziertes Journalismusprojekt“, das mit Facebook kooperiert und unter anderem von der Bundeszentrale für politische Bildung, von der Telekom und der Open Society Foundations des George Soros finanziert wird, ein Konzeptpapier zu dem Problem: „Wie können wir alle die Methoden des konstruktiven Journalismus einsetzen, um zur Lösung der Corona-Krise beizutragen.“

Die „Methoden des konstruktiven Journalismus“ sind seit vielen Jahren bekannt und werden bei den Themen Flüchtlinge, Klima, Kampf gegen Rechts, Diversity, Rassismus oder Gender konsequent durchexerziert. Im Fall von Corona wurden sie bis zum Exzeß gesteigert. An dem Befund ändern auch die vereinzelten Absetzbewegungen in der Presse nichts, die neuerdings festzustellen sind.

Die Auflagen der meisten Zeitungen sinken unaufhaltsam, und allenthalben wird der fortschreitende Vertrauensverlust der großen Medien konstatiert. Trotzdem erzielt die mediale Dauerberieselung eine enorme Breitenwirkung. Auflage und Effekt der alternativen Medien sind hingegen überschaubar, und die sozialen Medien unterliegen einer strikten „Cancel Culture“. Ohnehin schaltet der Normalverbraucher nach getaner Arbeit die „Tagesschau“ ein, anstatt sich mühsam auf regierungskritischen Internet-Plattformen zu informieren. Er hat, wenn es hochkommt, eine biedere Lokalzeitung abonniert, deren politischer Teil aus den Zentralredaktionen der großen Pressekonzerne beliefert wird.

In der DDR, wo die durchweg staatlich gesteuerten Medien überhaupt kein Vertrauen genossen und die Mehrheit Abend für Abend geistige Republikflucht beging, indem sie das Westfernsehen einschaltete, blieben die Staatsmedien trotzdem für die Orientierung im Alltag verbindlich, denn hier erfuhr der DDR-Bürger, wie er außerhalb seiner vier Wände reden und sich verhalten mußte, um Repressionen zu vermeiden. Er geriet in einen schizophrenen Zustand, zerrissen zwischen der abgelehnten realen und der virtuellen Alternativ-Welt.

In der freiheitlich-demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik, so die offizielle Lehrmeinung, gebe es diese schizophrene Aufspaltung nicht, weil die realen Probleme in den Medien frei erörtert würden. Daran ist allenfalls richtig, daß die politisch-mediale Wunschwelt  und die reale Wirklichkeit sukzessive verschmelzen, was den Realitätsverlust jedoch kontinuierlich vergrößert. Hans Magnus Enzensberger prägte vor rund 60 Jahren in einer Reihe luzider Essays den Begriff „Bewußtseinsindustrie“, den er Adornos „Kulturindustrie“ zur Seite stellte. Die Bewußtseins- sei die „eigentliche Schlüsselindustrie“ unserer Zeit. Sie erschaffe ein Bewußtsein, um es anschließend auszubeuten und die existierenden Herrschaftsverhältnisse zu verewigen. Mit der fortschreitenden Kontrolle über die Wahrnehmung, die Urteilskraft und Entscheidungsfähigkeit würde eine ungeheure politische Macht in der Hand von wenigen akkumuliert. Ihnen stünde „eine Masse von politischen Habenichtsen (gegenüber), über deren Köpfe hinweg sogar der kollektive Selbstmord beschlossen werden kann“.

Die soziale Rolle des Journalisten, des „Intellektuellen“ umriß Enzensberger wie folgt: Natürlich sei er von den Macht- und Besitzverhältnissen in den Medien-Apparaten abhängig. Er sei unfreiwilliger Komplize einer Industrie, die ihn genauso brauche, wie er sie benötige. Immerhin sah Enzensberger im Intellektuellen noch einen Typus, der in der Lage ist, die Ambivalenz seiner Position zu durchschauen, der das Potential zur Selbstreflexion und zur Distanznahme besitzt und den Widerspruch, in den er objektiv gestellt ist, zwar nicht aufheben, aber ständig neu austarieren kann.

Der aktuelle Medienschaffende indes ist mehrheitlich selber ein Opfer der Bewußtseinsindustrie und hat ihre Regeln als „Sprachregime“ (Michael Esders) verinnerlicht. Das Sprachregime bildet sein inneres Korsett, das ihn zum „Haltungsjournalisten“ macht. Der Haltungsjournalist steht nicht mehr im Widerspruch  zu seiner objektiven Komplizenrolle, sondern er identifiziert sich mit ihr. Wo Abweichler versuchen, Machtstrukturen aufzudecken und das Elend der drei klassischen Gewalten zu problematisieren, bellt er mit der Zuverlässigkeit eines pawlowschen Hundes: „Verschwörungstheorie!“

Eine Illusion wäre es zu glauben, soviel Elend ließe sich noch reformieren. Es verdient allein die Abwicklung. Gewiß, die Vorstellung ist zu schön, um wahr zu werden.