© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 08/21 / 19. Februar 2021

O Gott! Schon wieder verfehlt!
Besserwissender Gute-Nacht-Onkel: Eine gnadenlose Abrechnung mit Peter Sloterdijks „Den Himmel zum Sprechen bringen“
Matthias Matussek

Zum dritten Mal in Folge möchte der Philosoph und Publizist Peter Sloterdijk dem Gottesglauben die ideologischen Tricksereien austreiben – und schon wieder steht er ratlos in der Arena.

Für uns, die wir dem seit Aristoteles nicht abwegigen Gedanken anhängen, daß die Schöpfung nicht aus dem Nichts kommt, sondern einen Schöpfer voraussetzt, einen ersten Beweger, birgt Sloterdijks Theopoesie mit ihrem gigantischen Bildungsschweif, einer wortreichen, bisweilen verschwurbelten, doch hochpolierten Prosa einen beträchtlichen Anlaß zur Enttäuschung – wobei die Ent-täuschung, so verstehe ich die Zwischenrufe an dieser Stelle, ja geradezu Programm seiner Unternehmung sei.

Aber was ist gewonnen mit einer Forschungsexpedition, deren Ergebnis von vornherein feststeht? Nämlich, daß Gott nicht existiert, weil es ihn nicht gibt. Es gibt nur eine literarische Strategie von bestenfalls poetischer Schönheit und ansonsten eine vernunftfeindliche Verschwörung von Ekstatikern und Verrückten zugunsten listiger Herrschaftsbestätigung. 

Aber das wissen wir doch seit Karl Marx und Ludwig Feuerbach, diesen Dioskuren der Aufklärungsarbeit, deren Entgötterungsleistung die Emanzipation des Menschengeschlechts und die Auftragslage der Todesfabriken in schwindelnde Höhen geschraubt hatten.

Er verrammelt die Tür vor dem christlichen Wunder

Worin liegt der Sinn dieses gigantischen und wortreichen Zirkelschlusses, der sich mit der Feststellung begnügt: Gott gibt es nicht, weil es ihn verdammt noch mal, wie oft soll ich das noch sagen, nicht gibt – und den Menschensohn, auch wenn er historisch verbürgt ist, diesen Jesus, erst recht nicht. Wobei der alte Rudolf Augstein hinzugefügt hätte: Und wenn überhaupt, dann hat er ganz andere Sachen gesagt als bisher kolportiert.

Also festgestellt ist für uns doch gerade „nicht festgestellte Tiere“, wie Friedrich Nietzsche die Menschengattung nannte, erst mal gar nichts. Und wenn wir es wären: Wie wollen wir, die wir dann schließlich mit Sloterdijk aus dem Fiebertraum der Religion erwacht sind, Mozarts Krönungsmesse begründen oder sowas wie die Liebe? 

Wie wäre es, lieber Peter Sloterdijk, mit ein wenig mehr Selbstbewußtsein und Wagemut, mit zumindest nachempfindendem Verständnis für den Kierkegaardschen Sprung in den Kreuzesglauben, ja für den mutigen Vorstoß zur eigenen Grenze und darüber hinaus?

Nun, die Gottesfrage läßt Sloter-djk nicht los, sie war schon in seinem Buch mit dem Rilke-Motto präsent („Du mußt dein Leben ändern“, wo der Glaube allenfalls noch als Fitneßstrategie genehmigt wurde), erst recht in „Nach Gott“, und nun wieder in dem großspurigen Titel „Den Himmel zum Sprechen bringen“. Und jedesmal klempnert der große Fabulierer mit Begriffen wie „religioid“ oder „Epiphaniedruck“, also in einer metaphysischen Ingenieurssprache, an seinem Problemfall herum, an diesem Rätsel, das ihn irgendwie verrückt macht. Am Kubikwürfel des Glaubens.

Mir erging es bei der Lektüre des neuen Buches über die „Theopoesie“ wie mit den Vorgängern: eine gewaltige Staubwolke, die zunächst begeistert, bis man mitkriegt, daß sie erzeugt wird, weil der Autor auf der Stelle tritt. Also Anlaß-Faszination, gefolgt von schneller Ermüdung über genau das, was die Rezensenten „stupende Belesenheit“ nennen, die mich aber an die Technik des Bluffs erinnert. 

Im Grunde reproduziert Sloterdijk genau den Schein, den er den Religionen, besonders der christlichen Religion, vorwirft. Um zur Verdeutlichung einmal leicht abwandelnd zu zitieren: Die Religion, schreibt er, sei „ein literarisches Produkt, mit dessen Hilfe die Autoren, (hier: der Autor), um Klienten auf dem engen Markt der Aufmerksamkeit von Gebildeten wirbt“.

Na gut, also, wir sind ganz Ohr! Aber: Über die Entstehung des christlichen Weltentwurfs (der nebenbei die Aufklärung erst möglich machte) aus der platonischen Idee, die ins Johannes-Evangelium Eingang fand („Am Anfang war das Wort“), ist doch schon in extenso geschrieben worden. Erst der Geist, dann die Materie. Erst der Schöpfer, dann die Welt.

Ebenso über orphische und dionysische Kulte sind wir schon unterrichtet, vielleicht weniger über die Maskenmänner Melanesiens, aber über dies alles und die kosmologischen Märchen der Amazonas-Indianer hat doch Mircea Eliade in seiner „Geschichte der religiösen Ideen“ schon seriös geschrieben, ohne Originalitäts- beziehungsweise Epiphaniedruck, ja ohne daß diese Kulte noch einmal als polemische Belege für religiösen Mummenschanz zitiert werden müßten. 

Sicher wäre es interessant, mehr zu wissen über die „schwach ausgeleuchteten Phase“ zwischen Kreuzestod und Himmelfahrt – Sloterdijk zufolge Wochen voller Delirien und geisterhafter Wahrnehmungen. Auch wäre es spannend, den Völkerapostel Paulus nach dem Wegfall seiner von Sloterdijk vermuteten Delirien über seine Mission (immerhin mehrmals gesteinigt, mindestens dreimal schiffbrüchig, eingekerkert, schließlich getötet), also abgeschminkt nach dieser epochalen Vorstellung, gesprochen zu haben, aber wie will er heute wissen, ob es möglicherweise die Stimme des Herrn vor Damaskus nicht doch gab und Paulus’ darauffolgenden Sturz vom Pferd? 

Im übrigen, da es unterschiedliche Zeugenaussagen gibt: Ist eine innere Stimme weniger real?

Nein, der sonst so kühne Sloterdijk verrammelt sehr neuzeitlich die Tür vor dem Wunder, dessen Betriebsgeheimnis er zu wissen glaubt und welches er in diesem Buch zu verraten verspricht wie einen albernen Varieté-Trick. Aber warum wirkt das alles so unüberzeugend, so vorlaut wie bei dem Schüler aus der ersten Reihe des Zeitgeistes, der aus dem Kichern nicht rauskommt?

Mit einer erfrischenden Spottlust hatte Sloterdijk einst die Bühne der Schulphilosophie als Schriftsteller betreten. Seine „Kritik der kynischen Vernunft“ war von herrlicher Maßlosigkeit, auch die folgenden Weltentwürfe wie „Sphären“ oder „Der Weltinnenraum des Kapitals“ waren poetische Diagnosen, denen man sich gerne aufschloß. Aber sein Gotteskomplex, mit dem er sich nun zum dritten Mal beschäftigt, um zum dritten Mal abzurutschen, ist genau jene banausische Handreichung zu einer „Seelendämmerung“, die Slo-terdijk nicht für ein düsteres Menetekel, sondern eine Kur hält. Für eine Welt, die von Nietzsches letztem Menschen bevölkert ist. „Was ist Liebe? Was ist Schöpfung? Was ist Sehnsucht? Was ist Stern?“ – so fragt der letzte Mensch und blinzelt.

Dieses „Blinzeln“ erkennt Heidegger als Abkehr vom Denken, das sich begnügt mit der Oberfläche. Und da ist Sloterdijk mit all seiner prunkenden Geläufigkeit über die mesopotamischen oder babylonischen Marmaduk-Mythen (er schrieb eine Oper zu dem Thema) gelandet. 

Mit seinem Buch weicht er der Wahrheitsfrage aus, indem er sie historisiert. Er hält das Sedativ des besserwissenden Gute-Nacht-Onkels bereit, der die beunruhigenden Geister vertreibt. Der Verzweiflungsschrei Nietzsches über den „letzten Menschen“ scheint an dem Nietzscheaner Sloterdijk erstaunlicherweise völlig verloren. Aber er hat sich nun mal leider dazu entschlossen, anders als sein leidendes Vorbild, nichts mehr zu riskieren, existenzphilosophisch gesprochen. 

Er mündet ein in ein neues, selbstzufriedenes Biedermeier der Rationalität und Vernunftbeschwörung. Nur komisch, wie so einer über Sokrates erzählen kann, ohne irritiert zu sein über dessen reichlich belegtes Insistieren auf dem eu daimon, dem guten Dämon, also eine Seele, ihn lenkend bis in den bejahend angenommenen tödlichen Urteilsspruch? Wie läßt sich das ironisch abschütteln?

Jesus ist für Sloterdijk nur der göttliche performer, dem es gelingt, „seinen Text ex tempore zu sprechen“. Daß seine irdische Existenz eine Erscheinung Gottes in Menschengestalt bezeugte, „galt als religiöses Standardereignis im Raum zwischen Nil und Ganges“. Das liest sich wegwerfend lustig und noch fantastischer unsinnig.

Zur großen Überforderungrede Jesu, der Bergpredigt, in der er gebietet, dem Angreifer nach der rechten auch die linke Wange hinzuhalten, fällt ihm der Kalauer ein, daß der „Ohrfeigengeber ambidextrisch begabt sein sollte, weil er, um die rechte Wange zu treffen, zuerst mit der linken geschlagen haben müßte“... Kicher, kicher.

Gesellschaftsspaltende Wucht der Gottesfrage

Im Vorbeigehen erledigt er Ernst Blochs messianisches „Prinzip Hoffnung“ mit der Bemerkung „Hoffnung kann kein Prinzip sein ...“ Ach ja? Wußten wir noch gar nicht. 

Da Paulus davon spricht, daß Gott nicht mehr auf „Tafeln aus Stein, sondern auf denen des Herzensfleisches“ schreibe, und die jüdischen Gesetzestafeln wiederum auf solche aus der assyrischen Vorzeit von 1300 rekurrieren, folgert er, daß „das christliche Herz eine Babylonische Formatierung“ habe. Boah!

Sicher, so Sloterdijk, bilde Religion auch Zusammengehörigkeit. Daß aber der Übergang von Kultgemeinschaften zu belastbaren und erfolgreichen „Großverbänden“, ja zu „Erfolgsteams“ unter pluralistisch-demokratischen Verfassungen gelinge, erfordere eine nationalistisch drapierte „Wir-Fiktion“. Zitat: „Der Begriff Nation bildet bis auf weiteres eine labile, semigenealogische Metapher für das unverstandene Vermögen des Zusammengehörens ...“ Das jetzt hier mal nebenbei bemerkt: Hat einer, der so über allen Wassern schwebt, überhaupt begriffen, was der Clash der Zivilisationen und die brisante Frage der Religionszugehörigkeit und der Nation realiter bedeutet? 

Sloterdijks unverstandenes Vermögen beziehungsweise verständliches Unvermögen zur heute brandaktuellen und gesellschaftsspaltenden Wucht der Gottesfrage überhaupt Stellung zu nehmen – er hält sich seit neuestem aus allen diskursiven Gefahrenzonen heraus – ist nicht das geringste Ärgernis in diesem Buch. Denn es spielt tatsächlich eine Rolle, woran wir glauben!

Parforceritt mit schlampigen Analogien

Ausgerechnet der Marxist aus der Frankfurter Schule und Sloterdijks Rivale in der öffentlichen Arena, Jürgen Habermas, hatte 2001 in seiner Friedenspreisrede des Deutschen Buchhandels, in dem Vortrag „Glauben und Wissen“, der religiösen Wahrheit seinen Respekt nicht verweigern wollen, die uns immerhin ein „Bewußtsein von dem vermittele, was fehlt“. Davon ist in Sloterdijks Theopoesie rätselhafterweise nichts zu spüren. In seinem Parforceritt kreuz und quer durch die Glaubensgeschichte wimmelt es dafür vor schlampigen Analogien. 

Da wird der große Alexander in seinen Ehrentiteln „Sohn des Zeus“ genannt, und schon sind wir bei Jesus, der den Allmächtigen „Vater“ nennt – damit will Sloterdijk bewiesen haben, daß es mit dem Christentum nichts Neues unter der Sonne gibt.

Doch halt, vielleicht das: Nach über 2.000 Jahren sind Zeus- oder Osiris-Tempel in unseren Großstädten relativ spärlich vertreten, während christliche Gotteshäuser doch eine erstaunliche Resistenz zeigen.

Von seiner eigenen „Theopoetik“ läßt Sloterdijk den Leser zu Beginn des zweiten Teils wissen, daß er sich seine Aufgabe nicht leicht machen wolle. „Von einer feindlichen Übernahme des Heiligen durch das Profane kann nicht die Rede sein, eher von einer freundlichen Hinnahme des Allzuernsten.“

Nun, die herablassende freundliche Hinnahme wird gleich im nächsten Satz aufgekündigt, wo Sloterdijk vom Träumen und Halluzinieren, Rezitieren, Umformulieren und Re-inszenieren schreibt. Um am Ende des Buches zu gestehen, daß ihm lediglich ein ästhetisches Verfahren vorschwebte, und nicht etwa jenes, wie es die Philosophie in ihrem Wortkern selbstverpflichtend angibt, aus Liebe zur „Wahrheit“ zu schreiben. „Was „Religion“ hieß, war seit je ein joint venture aus Jenseits- und Diesseitspraktiken, nicht selten mit „extravaganten und theatralischen Zügen ausgestattet.“ Hm. Klingt irgendwie cool. Na dann.

Sloterdijks beträchtliche Herabsetzungslust hat es nicht verdient, ernsthaft unterboten zu werden, aber begnügen wir uns damit, knapp und schmutzig zu bilanzieren: unfaßbar geschwätzig und erneut vergeblich.

Peter Sloterdijk: Den Himmel zum Sprechen bringen. Über Theopoesie.Suhrkamp, Berlin 2020, gebunden, 352 Seiten, 26 Euro