© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 08/21 / 19. Februar 2021

Wandlungsfähig durch die Jahrzehnte
„Die Zeit“ feiert 75. Geburtstag: Von einst differenzierten Positionen ist wenig übriggeblieben
Karlheinz Weißmann

In der Geschichte der überregionalen Wochenzeitungen Nachkriegsdeutschlands gab es drei große Zäsuren: die Lizenzierung durch die Alliierten, das Zeitungssterben Ende der 1960er Jahre, den Beginn der Digitalisierung. Im Grunde hat nur ein Blatt alle Einschnitte überstanden: die am 21. Februar 1946 von Gerd Bucerius in Bremen gegründete Zeit.

Das Geheimnis dieses Erfolges ist Wandlungsfähigkeit. Die war schon gefordert, als Bucerius die Zeit auf dem ebenso attraktiven wie hart umkämpften westdeutschen Pressemarkt zu etablieren suchte. Sieht man von den Sonntagszeitungen, vor allem Springers Welt am Sonntag, und den Wochenblättern ab, die begrenzten ideologischen Lagern zugehörten, wie der sozialdemokratische Vorwärts, die kryptokommunistische Deutsche Volkszeitung, die stramm rechte Deutsche Soldaten-, später Deutsche National-Zeitung, richtete sich das Angebot in erster Linie an eine bürgerliche Bildungsschicht, die anspruchsvolle Information und Kommentierung jenseits der Tagesaktualität erwartete. Dazu gehörten in den 1940er und 1950er Jahren die kirchlich gebundenen Protestanten, für die es das Deutsche (Allgemeine) Sonntagsblatt sowie Christ und Welt gab, und die Katholiken, die den Rheinischen Merkur bevorzugten. Äußerst wechselhaft war das Schicksal der konservativ ausgerichteten Deutschen Zeitung, und erst mit Verspätung kam die Deutsche Wochen-Zeitung hinzu, die ihre Leser unter den Anhängern der „Nationalen Opposition“ fand.

Annäherung ans linke Milieu

Von den genannten Titeln existiert heute keiner mehr. Was auf veränderte Lesegewohnheiten zurückzuführen ist, aber mehr noch auf das Verschwinden der Milieus, die sie einmal getragen haben. Während der Adenauerjahre konnte sich kaum jemand vorstellen, in welchem Tempo die großen Fragen – Wiederaufbau, Wiederbewaffnung, Wiedervereinigung –, sondern auch die vorherrschenden weltanschaulichen und religiösen Prägungen an Bedeutung verlieren würden. Darauf geschickt zu reagieren, hatte nicht nur mit Intelligenz und einem Schuß Opportunismus zu tun, sondern auch mit der Tatsache, daß die Zeit allein im Besitz von Bucerius war, der notfalls Defizite ausglich und wendiger operierte als seine Konkurrenten.

Deutlich wurde das schon an der Art und Weise, in der sich die Zeit als „liberales“ Blatt präsentierte. Angesichts der Tatsache, daß Bucerius zur Gründergeneration der CDU gehörte, für die er zwischen 1949 und 1962 im Bundestag saß, war eine derartige Positionierung keineswegs selbstverständlich. Allerdings konnte der Begriff „liberal“ anfangs auch als Synonym für freiheitlich, marktfreundlich, antiklerikal und betont patriotisch stehen. Richard Tüngel, der 1946 als erster Chefredakteur der Zeit eingesetzt worden war, stand deshalb der Öffnung nach rechts durchaus wohlwollend gegenüber. Sein Entschluß, einen Text von Carl Schmitt abzudrucken, führte allerdings zum Konflikt mit Marion Gräfin Dönhoff, einer Redakteurin, deren Stimme großes Gewicht besaß, und endete mit dem Ausscheiden Tüngels.

Der Vorgang ist insofern bemerkenswert, als Tüngel zwar ausgesprochen konservative Positionen vertrat, aber nicht zu den „Belasteten“ gehörte. Das unterschied ihn von vielen Journalisten der frühen Bundesrepublik, auch von seinem Nachfolger Josef Müller-Marein, der unter anderem für den Völkischen Beobachter und Das Reich geschrieben hatte. Daß ihm das nicht zum Nachteil ausschlug, ging auf Müller-Mareins radikale politische Kehrtwende zurück, die er vollzog, indem er sich auf die Seite der Kulturlinken schlug.

Wirtschaftlich gesehen, war der Ende der 1950er Jahre eingeleitete Wandel ausgesprochen erfolgreich: die Auflage der Zeit stieg von 48.000 auf 300.000 Exemplare. Parallel zur Verschiebung des politischen Koordinatensystems vollzog sich die der Redaktion. Ältere Reserven wurden aufgegeben, es kam zur Annäherung an die SPD und den Plan gesellschaftlicher Großversuche. Die Zeit befürwortete ausdrücklich die Vergangenheitsbewältigung, forderte ein Ende des Abgrenzungskurses gegenüber der DDR und die Hinnahme der Oder-Neiße-Linie. Bucerius selbst fühlte sich ausgesprochen wohl im Umgang mit den Progressiven, hätschelte auch die APO und deren Wortführer. Außenpolitisch blieb es zwar beim grundsätzlichen Ja zum westlichen Bündnis und zum Ziel der europäischen Einigung, aber ergänzt um scharfe Kritik der USA – etwa im Hinblick auf den Vietnamkrieg – und wachsendes Wohlwollen für die Sowjet­union wie deren Satelliten, die DDR.

Mit diesen Positionen stand die Zeit für das Weltbild jener „neuen Mitte“, die seit den 1970er Jahren in der Bundesrepublik den Ton angab. Üblich wurde die stolze Attitüde, mit der man alles Gestrige ablehnte, weil es autoritär und patriarchalisch und unaufgeklärt war. Dagegen stand der Zeit-Abonnent als moderner Mensch, der selbstverständlich antiautoritär, emanzipiert und aufgeklärt die Welt mit Entwicklungshilfe, Resozialisierung und Gleichberechtigung zu einem besseren Ort machen werde. Wenn die Zeit damals nicht ganz nach links abdriftete, hatte das auch mit dem Einfluß von Marion Gräfin Dönhoff zu tun, die 1968 die Chefredaktion übernahm. Allerdings lag ihr die Aufgabe der Moderatorin nicht. Sie blieb nur für vier Jahre, dann folgte schon Theo Sommer. Sommer hat die Zeit bis 1992 geführt und unter Beweis gestellt, daß Ansehen und Einfluß eines Mediums nichts mit der Qualität seiner Analysen zu tun haben müssen. Folgte man den Berichten und Kommentaren und den berühmten „Dossiers“, gehörte die pädagogische Zukunft der Gesamtschule, waren Kommunisten im Staatsdienst ganz in Ordnung, mußte der Justiz beim Vorgehen gegen Terroristen auf die Finger gesehen werden, durfte man Verständnis für Angriffe auf Polizisten bei Demonstrationen haben, war Jürgen Habermas der Meisterdenker des 20. Jahrhunderts, Ernst Nolte ein Edelnazi und Helmut Kohl eine politische Null, beschwor die Nachrüstung den Dritten Weltkrieg herauf, bot der Multikulturalismus wunderbare Perspektiven und gab es für die Teilung Deutschlands eine Ewigkeitsgarantie.

Was den letzten Punkt betraf, wurde nach der Wiedervereinigung Selbstkritik geübt. Aber in sehr moderater Form. Anlaß zu einer Kurskorrektur sah man nicht. Die wäre von den Lesern auch kaum mitgetragen worden. Denn die wollten nach der „Wende“ so wenig wie die Macher ihres Zentralorgans an alte Irrtümer erinnert werden. Einige Orientierungsschwierigkeiten muß es aber gegeben haben. Bezeichnend jedenfalls, daß keiner der Nachfolger Sommers lange blieb. Das änderte sich erst, als 2002 Giovanni di Lorenzo das Ruder übernahm.

Bis dahin eher als Leichtgewicht betrachtet, zeigte di Lorenzo ein überraschendes Maß an Durchsetzungsvermögen und Geschick beim Aus- und Umbau der Zeit, vor allem im Hinblick auf deren digitale Präsenz. Die Auflage soll heute bei über 500.000 Exemplaren liegen. Der von di Lorenzo forcierte Linkskurs hat diesen Erfolg offenbar eher beflügelt als gehemmt. Gab es bis in die 1990er Jahre hinein wenigstens noch das eine oder andere Korrektiv, nicht nur im Wirtschaftsteil, sondern auch in Politik und Kultur, ist davon heute nichts geblieben. Mit Begeisterung führt die Zeit jeden „Kampf gegen Rechts“, und existiert ganz komfortabel als Leibblatt der Anhänger des Mainstreams mit Hochschulreife.