© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 08/21 / 19. Februar 2021

Die Sowjets schlichtweg in den Ruin gerüstet
Fleißarbeit mit Schwächen: Odd Arne Westads Weltgeschichte des Kalten Kriegs verdrängt Wesentliches
Jürgen Liminski

Die Geschichte des Kalten Krieges ist die Geschichte des vergangenen Jahrhunderts. Der norwegische und in Harvard lehrende Historiker Odd Arne Westad hat sie in einer monumentalen und globalen Erzählung zusammengefaßt. Westads Wälzer ist flüssig geschrieben und in 22 Themenkomplexe aufgeteilt, so daß der Leser auch tiefer in manche Probleme einsteigen kann. Das ist zweifellos der Vorteil des Verzichts auf ein rein chronologisches Narrativ. Der Nachteil zeigt sich aber in der Auswahl der Themen und darin, daß man bei der Konzentration auf ein einzelnes Thema das große Ganze aus dem Blick verlieren kann. Hier liegen auch die Schwächen der umfangreichen Fleißarbeit.

Zwei Beispiele: Im Kapitel Gorbatschow klebt der Autor so sehr an der mit Sympathie betrachteten Person, daß er einen Schlüsselmoment übersieht, der die Wende des Kalten Krieges mental bei Gorbatschow herbeiführte. Dieser Moment ereignete sich bei der Begegnung Gorbatschows mit dem damaligen US-Präsidenten Ronald Reagan in Reykjavik am 11. und 12. Oktober 1986. Westad schreibt zum Ergebnis der Begegnung: „Wenngleich die Mehrheit der Berater auf beiden Seiten sehr erleichtert war, daß die ins Auge gefaßte radikale atomare Abrüstung (wenigstens hier und jetzt) nicht erreicht worden war, begriffen sie doch, daß sie sich von nun an auf komplettem Neuland befanden, was die Verhandlungsergebnisse zwischen den beiden Seiten betraf.“ 

Das komplette Neuland betraf aber vor allem die sowjetische Seite. Der Rezensent weiß von Augenzeugen und Beobachtern zu berichten, daß Reagan, gut gebrieft, sich angesichts der ruinösen Militärausgaben der UdSSR entschlossen hatte, „Gorbatschow über das komplette Militärarsenal der USA aufzuklären. Da das für die Konferenz bereitgestellte Holzhaus nicht abhörsicher schien, lud Reagan Gorbatschow in sein hermetisch gesichertes geparktes Flugzeug ein. Nach der Unterrichtung verließ ein sichtlich erschütterter“ – ein Informant meinte sogar: „psychisch zertrümmerter“ – Gorbatschow die Maschine. Die amerikanische Überlegenheit, die Reagan offen vor ihm ausbreitete, hatte ihn „tief getroffen“. Fortan glichen die Abrüstungsgespräche mehr einem freundlichen Diktat als echten Verhandlungen, und Gorbatschows Reformen und außenpolitische Aktivitäten (vor allem in Europa) standen unter dem Schirm oder Schatten dieser Begegnung. Das wird bei Westad, der stets und sichtlich bemüht ist, eine gewisse Äquidistanz der beiden Supermächte zu sehen, nicht deutlich. 

Sowjetische Desinformation verfing in Deutschland

Das zweite Beispiel betrifft ein von Westad völlig ausgeblendetes, aber für den Kalten Krieg wesentliches Thema: die sowjetische Desinformation. Sie findet in den 760 Seiten erstaunlicherweise keine Erwähnung. Dabei hat Gorbatschows Vorbild und Vorvorgänger Andropow beim KGB eine eigene Abteilung dafür einrichten lassen, die auch erfolgreich agitierte, besonders in der Bundesrepublik Deutschland. Man denke nur an die Massendemos der „Friedensbewegung“ Anfang der achtziger Jahre, die sogar Bundeskanzler Kohl so sehr beeindruckten, daß er bei Reagan nachfragen ließ, ob man die Stationierung der Pershing-II-Raketen nicht etwas verschieben könne. 

Manche Experten hielten auch die Glasnost-Kampagnen Gorbatschows für einen Teil der Moskauer Desinformationspolitik. Und man darf wohl annehmen, daß die psychologische Kriegsführung Moskaus mit Hilfe der Desinformationskampagnen nicht nur den Westen destabilisieren sollte, sondern auch die Sowjetunion und ihre Vasallen bestätigt und somit den Kalten Krieg verlängert hat. Reagans Außenminister George Shultz meinte zu Recht: „Mehr als unsere Raketen fürchten die Sowjets die Informationsraketen der Wahrheit.“ 

Hier offenbart sich auch eine grundsätzliche Schwäche des umfangreichen Werkes. Westad bleibt mit seiner Erzählung an der Oberfläche. Er sammelt zwar viele Details, geht aber nicht wirklich in die Tiefe menschlicher Beweggründe. Zwar spricht er in den ersten Kapiteln von der Konfrontation zwischen Kapitalismus und Sozialismus, aber immer wieder gewinnt man den Eindruck, er wolle die Äquidistanz zu beiden Ideologien nicht verlassen. 

So unterlaufen ihm in dem Bemühen, Vorgänge und Handlungen nicht bewerten zu wollen, auch Fehler, etwa wenn er mit kleinen Bemerkungen die Rolle Reagans herunterzuspielen versucht, oder die Verdienste des (polnischen) Papstes bei der Überwindung des Kommunismus übergeht und mit keiner Silbe das Attentat auf Johannes Paul II. erwähnt, immerhin ein historisches Ereignis, das in den Folgejahren Wirkung gerade in Polen entfaltete. Es gibt eben nicht nur die Wirklichkeit der Dokumente aus den Archiven, sondern auch die unsichtbare Wirklichkeit von Gedanken und Geist. Das verdrängt der Autor und bleibt deshalb trotz der vielen Seiten oberflächlich.

Der Kalte Krieg war vor allem ein Ringen von Weltanschauungen. Westad aber will um jeden Preis wissenschaftlich-neutral bleiben. So verwechselt er empirische Neutralität mit der Suche nach einem System, das dem Menschen, der nicht nur Konsument oder Produzent von Gütern ist, gerecht wird. Überaus deutlich wird das, wenn er die Überlegenheit des Westens auf die „Verbindung von staatlicher Finanzierung – häufig durch das Militär – und privaten Unternehmen, welche die Güter herstellten“, reduziert und damit die Innovationskräfte eines freiheitlichen Systems mit ihren immanenten und geistigen Motivationen schlicht übersieht. 

Westads globale Erzählung des Kalten Kriegs ist sicher eine Fundgrube von Details als Ergebnis einer umfassenden Quellenforschung in einem Dutzend Archiven des Westens, Rußlands und auch Asiens. Sie eröffnet auch neue historische Perspektiven. So betrachtet er das Jahr 1917 als Beginn des amerikanisch-russischen oder des West-Ost-Konflikts. Es war das Jahr, in dem die USA in den Krieg eintraten und in dem die Sowjets das Zarenreich zum Einsturz brachten. 

Aber der Kampf der totalitären Welt gegen die freiheitliche ist keine Frage von Detailfülle. Der diskursive Stil stößt hier an Grenzen. Gerade eine globale Erzählung macht neugierig auf die Zukunft, und hier hätte man sich mehr Perspektive erhofft mit Blick auf die totalitäre Gefahr des Islamismus in Eu-ropa und die Rolle der Religionen im 21. Jahrhundert und für die Zukunft der Demokratien. Mit dem diskursiven Stil entspricht der Harvard-Historiker einem weit verbreiteten Denken in der heutigen Politik, das nicht ungefährlich ist – oder, um es mit Henry Kissinger zu sagen: Das Fahren auf Sicht und der Mangel an strategischem Denken – zum Beispiel bei Angela Merkel – trägt zur Schwächung des Westens bei. 

Die USA als Supermacht im Niedergang abgeschrieben

Deutlich wird das nicht nur am Islam, sondern auch an Chinas Aufstieg, der sich bereits in der Endphase des Kalten Kriegs in den achtziger Jahren durch die Öffnung des Reichs der Mitte dank Deng Xiao Pings Reformen ankündigte. Westads monumentales Werk ist hier sicher näher an Merkel als an Kissinger. 

Auch die kritische Haltung Westads zu Amerika, dem maßlosen Kontinent, ist zwar in mancherlei Hinsicht berechtigt. Aber die USA deshalb mit dem Ende des 20. Jahrhunderts als „Supermacht im Niedergang“ schon abschreiben zu wollen, erscheint dann doch reichlich verfrüht. Westad beschreibt hier vermutlich unbewußt und ungewollt eine echte Gefahr, für die er selber ein Beispiel bietet: Es gibt kein Gefühl mehr für Bedrohungen. Dieses vor allem in Deutschland weit verbreitete Vakuum mag in Norwegen oder den Elite-Universitäten Amerikas vorherrschen. 

Wer Westads Buch nach der Lektüre etwas ratlos aus der Hand legt, kommt dennoch ins Nachdenken. Zum einen, weil der Autor es trotz der vielen Seiten an Interpretationen mangeln läßt, und zum anderen, weil die globale Fülle der menschlichen Taten und der Geschehnisse, die der Harvard-Professor ausbreitet, ihn mahnen, wachsam zu bleiben gegenüber den tieferen Motivationen des Menschen und den totalitären Versuchungen der Macht, seien sie religiös, ideologisch oder auch ethnisch motiviert. Solche Motive und Triebe machen Geschichte. 

Odd Arne Westad: Der Kalte Krieg. Eine Weltgeschichte. Klett Cotta Verlag, Stuttgart 2020, gebunden, 763 Seiten, Abbildungen, 34 Euro