© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 08/21 / 19. Februar 2021

Jede Gesellschaft hat die Modedroge, die sie verdient
Psychopillen für Arbeitlose und Topmanager / Eine Handreichung zur unendlichen Geschichte von Menschen und ihrer Sucht
Dirk Glaser

In Japan wird Touristen manche Frechheit verziehen. Wer jedoch für eine japanische Firma arbeitet, für den gibt es hingegen kein Pardon. So konnte sich Renault/Nissan-Chef Carlos Ghosn, der auf zu großem Fuß lebte, nur durch eine abenteuerliche Flucht der Tokioter Justiz entziehen (JF 4/20). Die Toyota-Pressechefin Julie Hamp wurde 2015 verhaftet, weil ihr ihr Vater Oxycodon-Pillen geschickt hatte. Die 55jährige kam zwar bald frei, weil die USA als Schutzmacht über mehr Druckmittel verfügen als Frankreich – aber ihren Job war sie los, und Konzernchef Akio Toyoda mußte sich öffentlich entschuldigen.

Warum? Das schmerzstillende Opioid, 

das Hamp in Untersuchungshaft brachte, oder das angsthemmende Benzodiazepin Xanax haben in den USA im vergangenen Jahrzehnt Hunderttausende in die Suchtabhängigkeit oder in den Tod befördert. Pharmafirmen und Ärzte drückten opiumbasierte Schmerzmittel mit hohem Suchtpotential in den Markt, was zu einer regelrechten Epidemie unter der meist weißen Bevölkerung in den ehemaligen US-Industrieregionen führte (JF 43/19).

Diese Schmerzmittelsucht, so rekapituliert der Amerikanist Manfred Berg, habe auch den Mißbrauch von Heroin und anderen Rauschgiften stimuliert und zu einem dramatischen Anstieg der Drogentoten geführt. Zwischen 1999 und 2017 verdreifachte sich deren Anteil pro 100.000 Einwohner von 6,1 auf 21,7. Im Oktober 2017 rief der damalige US-Präsident Donald Trump sogar den nationalen Gesundheitsnotstand aus – dennoch starben 2018 noch über 67.000 US-Bewohner an einer Überdosis, 50.000 fielen Opioiden zum Opfer.

Daran und an andere Kapitel der „unendlichen Geschichte von Menschen und ihrer Sucht“ erinnert ein „Rausch und Drogen“ gewidmetes Themenheft der Bundeszentrale für politische Bildung (Aus Politik und Zeitgeschichte, 49-50/20). Jede Gesellschaft habe offensichtlich die Modedroge, die sie verdiene, meint der Polititologe Robert Feustel (Uni Jena). So erfreuten sich Oxycodon und Xanax wohl deshalb bei den „Globalisierungsverlierern“, dem deklassierten Segment der US-Mittelschicht, so großer Beliebtheit, weil der „Irrsinn des Spätkapitalismus“ oder die Transformationsschmerzen einer Übergangsgesellschaft nicht anders zu ertragen gewesen seien. Wobei, wie der Hamburger Psychologe und Mediziner Thomas Köhler beschreibt, Suchtkarrieren nicht allein der jeweiligen Gesellschaft anzulasten seien. Der Einzelne bestimme den Preis, den er für seine Alkohol- oder Ecstasy-Sucht bezahlen wolle: Psychosen, Veränderungen des zentralen Nervensystems, irreparable kognitive Schädigungen oder gar das eigene Leben.

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