© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 09/21 / 26. Februar 2021

„Wir lassen unsere Kinder im Stich“
Die Autorin Gabriele Kuby gilt als eine der energischsten katholisch-konservativen Gesellschaftskritikerinnen Deutschlands. In ihrem neuen Buch „Die verlassene Generation“ schildert sie das psychische Elend, dem wir unsere Kinder teils unbewußt ausliefern
Moritz Schwarz

Frau Kuby, wer ist die „verlassene Generation“?

Gabriele Kuby: Unsere Kinder und Jugendlichen, die von uns allen – dem Staat, den Institutionen und der Generation der Erwachsenen – im Stich gelassen werden. 

Inwiefern das?

Kuby: Inzwischen ist jedes vierte Kind in Deutschland körperlich, jedes zehnte psychisch chronisch krank. In Rheinland-Pfalz und Berlin sind bereits ein Drittel der Jugendlichen in therapeutischer Behandlung, laut AOK sind 35 Prozent aller Kinder entwicklungsgestört. Wenn wir diese Zahlen jeden Abend in der Tagesschau hören würden, würde vielleicht ein Aufwachen beginnen. Diese Kinder sind in spätestens 18 Jahren Wähler und sollen unsere Demokratie tragen. Woher aber nehmen sie dafür die Kraft und die Orientierung? 

Klingt schockierend, aber waren die Zahlen nicht schon immer so hoch? Oder werden heute vielleicht Zustände für pathologisch erklärt, die früher normal waren? 

Kuby: Laut Heilmittelbericht der AOK haben sich die diagnostizierten Entwicklungsstörungen bei Kindern von fünf und sieben Jahren zwischen 2008 und 2018 um 27 Prozent erhöht. Die Bundesärztekammer spricht von einer „neuen Morbidität“, einer Verschiebung von akuten zu chronischen Krankheiten, von körperlichen zu seelischen Störungen. Nun gibt es zusätzlich einen Schub durch die Lockdown-Maßnahmen. Wir halten uns für den Gipfel einer humanen Gesellschaft. Aber die Humanität einer Gesellschaft bemißt sich an ihrem Umgang mit den Schwachen. Da fällt die Bilanz schlecht aus. Zu Ihrer zweiten Frage: Es sind neue Krankheitsbilder aufgetaucht wie Magersucht und ADHS, und seit kurzem Geschlechtsdisphorie, schwere psychische Störungen, die es in diesem Ausmaß im meiner Jugendzeit nicht gab. 

Aber sind wir denn nicht ein eher kinderfreundliches Land? Wo lassen wir unsere Kindergeneration „im Stich“, wie Sie sagen? 

Kuby: Ich bin in meinem Buch der Entwicklungslinie des Kindes gefolgt. Der Knackpunkt ist die heutige Einstellung: Sex ja, Baby nein. Erstens verhindert dies, daß sich Mann und Frau einander ganz schenken, mit einem Wort die Liebe, zweitens machen sich die Erwachsenen zum Herrn über das Kind, sie bestimmen, wann und unter welchen Bedingungen sie ein Kind zeugen wollen. Wenn ein Kind ungelegen kommt oder nicht gesund ist, wird es im Mutterleib getötet – weit mehr als hunderttausend allein in Deutschland: „Ist ja nur ein ‘Zellhaufen’ ...“ Wenn aber ein Kind gewünscht wird, dann wird im Ultraschallfoto ein „Baby“ bejubelt. Falls sich die Natur verweigert – die Samenqualität des Mannes und die Fruchtbarkeit der Frauen sinken dramatisch –, dann wird das Kind künstlich produziert, das fehlende Erbgut gekauft, der Mutterbauch gemietet. Das Kind wird zum Produkt. Hat es das Kind ins Leben geschafft, dann wird es oft schon im ersten Lebensjahr in kollektive Fremdbetreuung übergeben, die Familienministerin von der Leyen mit Unterstützung der Wirtschaftsverbände durchgepowert hat. Das Grundbedürfnis des Kindes nach Bindung und Geborgenheit bleibt unerfüllt und führt zu seelischen Schäden. Das Kleinkind ist auf die beständige Kommunikation mit der Mutter angewiesen, es darbt und leidet, wenn es die Mutter entbehren muß. Und nicht nur das Kind wird geschädigt, wie eine Flut von Studien belegt, sondern die Eltern berauben sich der tiefen Freude, in der Geborgenheit der Familie ein gesundes Kind heranwachsen zu sehen. 

Im Kindergarten beginne dann die Partizipations-Pädagogik, schreiben Sie.

Kuby: Die ist nichts anderes als die Fortführung der antiautoritären Pädagogik der Kinderläden von 1968. Die Erzieherinnen sind zur „Beschwerdestimulation“ verpflichtet, sonst gibt es keine Förderung: Die Kleinen sollen bei allem mitentscheiden und sich beschweren, wenn es nicht nach ihrem Willen geht. In der Schule werden sie dann der staatlichen Zwangssexualisierung nach den Vorgaben des Kinderschänders Helmut Kentler und seines Ziehsohns Uwe Sielert ausgesetzt. Eltern können ihre Kinder nicht vor diesem nachhaltigen Eingriff in die Persönlichkeitsentwicklung bewahren, der den Werten nicht nur christlicher Erziehung zutiefst widerspricht. Ab zehn, zwölf Jahren übernimmt das Smartphone: Kinder tauchen in die sozialen Medien ab, können vor Pornographie nicht mehr geschützt werden, werden cybersüchtig, depressiv und dick. Das Schlimmste für das Kind in jedem Alter ist die Scheidung der Eltern. Ein Kind besteht genetisch aus Vater und Mutter. Wenn die Eltern sich trennen, wird seine Existenzbasis erschüttert mit lebenslangen Folgen. Sie sehen also, blickt man aus der Perspektive des Kindes auf die Gesellschaft, erkennt man ihre ungeheuerlichen Zumutungen gegenüber unseren Kindern! Wenn ich in die strahlenden Gesichter meiner Enkel schaue, die nur Gutes von der Welt erwarten und mit ihrem Lachen, ihrer Kreativität, ihrem Witz und ihrer bedingungslosen Liebe eine Quelle der Freude sind, wenn ich an ihnen das Wunder der Menschwerdung erlebe, die Entfaltung der Intelligenz, die Aneignung der Sprache, die lustvolle Neugier auf die Welt – und dann daran denke, welchen Einflüssen sie ausgesetzt sein werden, dann wird mir ganz „schiach“, wie der Bayer sagt. 

Wie ist es zu dieser Abwendung von der Kindergeneration gekommen? 

Kuby: Was ist das Credo der von Gott abgefallenen Gesellschaft? Extremer Individualismus und Materialismus: Jeder denkt an sich, nur ich denke an mich. Meine Bedürfnisse müssen erfüllt werden. Ich definiere mich selbst nach meinen Gefühlen! Ich entscheide heute, ob ich Mann oder Frau oder sonst etwas Diverses bin. Ich bestimme, ob ein Kind getötet oder künstlich produziert wird. Dahinter steht eine Verabsolutierung von Freiheit, die mit der Wirklichkeit auf Kriegsfuß steht. Wir haben weder die Welt noch uns selbst geschaffen. Leben gelingt, wenn wir ja sagen zu den Bedingungen unserer Existenz, ja sagen zu unserem Körper, wenn wir dem Leiden nicht auf Kosten anderer entfliehen wollen, wenn wir lernen zu lieben. Liebe erfordert früher oder später die Bereitschaft zum Opfer. Das erleben Eltern ab dem ersten Lebenstag ihres Kindes. Ein Kind muß hören und erleben: „Schön, daß es dich gibt! Ich will, daß es dir gut geht!“ Dafür sind wir Eltern bereit, Opfer zu bringen – ein Leben lang. Eine intakte Familie zu bauen und eine gute Mutter und ein guter Vater zu werden, ist der vom Leben vorgesehene Reifungsweg für den Menschen. 

Welche Rolle spielt die Gender-Ideologie bei all dem, die inzwischen ja in die Mitte der Gesellschaft vorgedrungen ist? 

Kuby: Wie es möglich war, in wenigen Jahrzehnten die gesamte Gesellschaft bis in die Mikrostrukturen mit der Gender-Ideologie zu durchsäuern, wird Soziologen beschäftigen, wenn das Zerstörungswerk vollbracht ist und die Vorreiter und Mitläufer mit hohlen Augen auf die Scherben schauen. Die politische Vergewaltigung der Sprache spielt dabei eine wesentliche Rolle. Die Mutter ist laut Gesetz in Spanien zum Progenitor 1, also „Erzeuger“, und der Vater zum Progenitor 2 geworden, TV- und Radio-Moderatoren machen eine Kunstpause beim diversen Sternchen. Der „Unfug“ nimmt halluzinatorischen Charakter an: Muttermilch soll in englischen Krankenhäusern „menschliche Milch“ heißen, weil eine Frau, die sich als Mann fühlt, schließlich auch ein Kind stillen kann. Justizministerin Christine Lambrecht will verheiratete lesbische Frauen „gleichstellen“. Kinder sollen nun in der Geburtsurkunde zwei „Mütter“ haben und keinen Vater – die Lüge wird ins Gesetz gegossen. Das alles ist dem ungebremsten „Fortschritt“ der sexuellen Revolution zu verdanken. 

Wieso sprechen Sie von Lüge? 

Kuby: Die grundlegendste anthropologische Gegebenheit, daß ein Mensch eine Mutter und einen Vater hat, wird den Bedürfnissen kleiner und kleinster Minderheiten geopfert. Der Begriff Gemeinwohl, dem die Politiker und Richter verpflichtet sein sollten, ist zum Fremdwort geworden. Aber es gibt halt nun mal nur Männer und Frauen, wenn man von den äußerst seltenen biologischen Fehlbildungen absieht, und es läßt sich auch nichts daran ändern, daß der Mensch durch die Verschmelzung einer männlichen Samenzelle mit einer weiblichen Eizelle entsteht. Wenn man daran rüttelt, zerstört man die Existenzgrundlage der Gesellschaft und damit die Bedingungen für das gesunde Aufwachsen von Kindern. Man erzeugt psychisches Massenelend und, nebenbei bemerkt, ungeheure Kosten für die Gemeinschaft.

Es gibt bestimmt viele Leser, die Ihre Kritik an sich unterstützen, die aber nicht auf das Scheidungsrecht oder ihre homosexuelle Lebenspartnerschaft verzichten wollen. 

Kuby: Wessen Bedürfnisse haben Priorität, die der Erwachsenen oder die der Kinder? Selbstverständlich stelle ich nicht in Frage, daß homosexuelle Menschen liebesfähig sind und auch einen tiefen Kinderwunsch haben können. Wir müssen uns aber fragen, mit welchem Recht der Gesetzgeber und die Justiz deren Wunsch, ein Kind zu adoptieren oder künstlich zu produzieren, über das Menschenrecht eines Kindes stellt, eine Mutter und einen Vater zu haben. Hat es denn irgend etwas mit Liebe zu einem Kind zu tun, wenn ein gleichgeschlechtliches Paar das Kind seiner Abstammung und damit seiner Identität beraubt, indem es das fehlende genetische Material kauft und es gegebenenfalls im gemieteten Bauch einer fremden Frau austragen läßt, von den gesundheitlichen Schäden ganz abgesehen? Bei der Scheidung ist es nicht anders. Wessen Bedürfnisse haben Vorrang, die der Eltern oder die der Kinder? Gewalt und Mißbrauch können eine Scheidung unumgänglich machen. Aber in den meisten Fällen geht es um die Bedürfnisbefriedigung Erwachsener, die nicht bereit waren, miteinander zu wachsen. Scheidung ist für Kinder traumatisch und eine „never ending story“ mit immer neuem Verwandtschaftspatchwork. Meine Hoffnung bei diesem und allen anderen Kapiteln meines Buches ist, daß das Herz des Lesers angerührt wird, wenn er sich von Ideologie befreit und die Wirklichkeit zur Kenntnis nimmt. Vielleicht kommen er und sie dann zu dem Schluß: Das darf und das will ich nicht tun: Ein ungeborenes Kind töten, es zu einem käuflichen Produkt entwürdigen, ihm die Mutter oder den Vater vorsätzlich entziehen, der Sexualisierung ausliefern, dem Smartphone und der Scheidung.  

Sie meinen, früher war alles besser?

Kuby: Ich behaupte nicht, früher war alles gut. Die Familien sind einerseits das Habitat der Liebe, andererseits die Brutstätte von Neurosen. Leider sind wir von Egoismus getrieben und müssen erst lernen, zu geben und zu lieben. Die Familie ist der Ort, der dafür vorgesehen ist. Wenn wir nicht bereit sind, gemeinsam zu wachsen, machen wir uns selbst und andere unglücklich. Es ist nicht möglich, durch Strukturen einen idealen Zustand zu schaffen und so Leid zu vermeiden. Statt dessen ist der Mensch aufgerufen, nach dem Guten zu streben und das Böse zu meiden, um die unvollkommene Welt so zu gestalten, daß die Würde des Menschen geachtet und die Freiheit immer neu erkämpft wird. Dazu muß er erzogen werden. Die grundlegenden menschlichen Haltungen wie Urvertrauen, Bindungsfähigkeit, Verantwortung, Anstand, Lernbereitschaft, Leistungsfähigkeit, Selbstvertrauen lernt Hänschen in der Familie oder gar nicht. Alexis de Tocqueville staunte über die Demokratie in Amerika und erkannte, daß sie nur auf der Basis des Christentums möglich ist, denn der Glaube an die Verantwortung vor dem Schöpfer motiviert den Menschen zum Guten.

Als Sie eingangs sagten, „Kinder und Jugendliche werden von uns im Stich gelassen“, meinten Sie also, daß wir unseren Anspruch auf unbeschränkte sexuelle Freiheit, Konsum und bequemes Leben über die Bedürfnisse unserer Kinder stellen? 

Kuby: Ich beschreibe Tendenzen, die nicht nur die Kinder, sondern auch unsere Zukunft gefährden. Aber es ist immer noch die Mehrheit der Eltern, die sich bemüht, liebevoll, verantwortungsvoll und verläßlich für ihre Kinder da zu sein. Sie müssen dies in einer krankmachenden Gesellschaft tun, in der der Staat immer tiefer in die Familie und die Elternrechte eingreift. Deswegen kämpfen die Linken hartnäckig darum, Kinderrechte in die Verfassung aufzunehmen, was völlig überflüssig ist, wie Rechtsexperten übereinstimmend sagen, weil Kinder auch Menschen sind. Kinderrechte dienen nicht den Kindern, sondern schaffen dem Staat neue Möglichkeiten des Zugriffs durch die juristische Aushöhlung des in der Verfassung garantierten Erziehungsrechts der Eltern. Eltern brauchen eine Vision von Familie, die Wahrnehmung der Gefahren, Verzichtbereitschaft und die Entschlossenheit, ihre Kinder in ihrem Leben an die erste Stelle zu setzen. Der Lohn ist die Chance auf eine glückliche Familie, fraglose Zugehörigkeit über Generationen und Bewahrung vor Einsamkeit. 






Gabriele Kuby, studierte bei Ralf Dahrendorf Soziologie, schrieb für die Zeitschrift Geo und arbeitet heute als Publizistin. Die Tochter des bedeutenden Nachkriegsjournalisten und Autors Erich Kuby veröffentlichte etliche Bücher, darunter „Gender. Eine Ideologie zerstört die Familie“. 2020 erschien „Die verlassene Generation“. Geboren wurde Kuby 1944 in Konstanz.

Foto: Eltern und Kinder: „Wessen Bedürfnisse haben denn wirklich Priorität, die der Erwachsenen oder die der Kinder? Blickt man einmal aus ihrer Perspektive auf unsere Gesellschaft, dann erkennt man ihre ungeheuerlichen Zumutungen gegenüber unseren Kleinen. Ich hoffe, daß mein Buch das Herz des Lesers anrührt ... und ihn die Wirklichkeit zur Kenntnis (nehmen läßt)“ 

 

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