© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 09/21 / 26. Februar 2021

Ohne freie Rede keine Kohle
Großbritannien: Regierung will die Einschüchterung vor allem seitens linker Gruppen an Unis stoppen
Jörg Sobolewski

Englische Universitäten galten lange als Hort einer freien und ungetrübten Meinungsäußerung. Was dem Straßenpopulisten „Speaker’s Corner“ im Hyde Park ist dem englischen Akademiker die freie Rede im Hörsaal. Soweit ging früher die Liebe der Angelsachsen zur demokratischen Kerntugend einer freien Debatte, daß 1999 ein britisches Gericht das Grundrecht auf freie Rede selbst auf das „Irritierende, das Streitige, das Exzentrische, das Ketzerische, das Unwillkommene und das Provokative“ ausdehnte. 

„Ich brauche täglich Sicherheitspersonal“

Freie Rede muß auch weh tun dürfen, so bisher die Stimmung im Vereinigten Königreich. Doch zwanzig Jahre nach der weitreichenden Entscheidung des Lordrichters Sedley steht es schlimm um die freie Meinungsäußerung zwischen Dover und Inverness – so schlimm, daß sich die britische Regierung mit einem Maßnahmenprogramm um das Recht auf freie Rede an den Universitäten befaßt.

Bildungsminister Gavin Williamson präsentierte in der vergangenen Woche ein mehrere Seiten umfassendes Papier, das sich „gegen die erschreckende Zunahme von Einschüchterungen“ an Universitäten wendet. So sollen Hochschulen in Zukunft einen Kodex zur „freien Rede“ unterschreiben, um öffentliche Gelder zu erhalten. 

Auch die Interessenvertretungen der Studenten nimmt die Regierung mit in die Pflicht, diese sollen Schritte einleiten, um die „Ausübung der freien Rede auf Veranstaltungen“ zu gewährleisten, und wer sich durch eine Universität oder eine der Uni angeschlossene Stelle in seiner Meinungsäußerung beeinträchtigt sieht, soll sich auf den Rechtsweg berufen dürfen und sogar Entschädigung erhalten, wenn sein Grundrecht verletzt ist. 

Dabei sieht die Regierung von Premierminister Boris Johnson vor allen Dingen durch sogenanntes „No Platforming“ und „Silencing“ die freie Rede unter Druck. Dabei handelt es sich um Angriffe lautstarker, zumeist linksextremer Gruppen, die sich gegen bestimmte Redner auf öffentlichen Veranstaltungen richten und diese auch im täglichen Lehrbetrieb mit Drohbriefen und sogar tätlichen Angriffen unter Druck setzen. 

Erreicht werden soll so aus Sicht der linken Studenten eine Abwesenheit von „sprachlicher Gewalt“ und eine „diskriminierungsfreie Universität“, wie es Travis Alabanza, eine LGBTQ-Aktivistin aus Bristol beschreibt. Dabei sei „nicht jedem erlaubt, sich als Opfer zu präsentieren“. Denn „Diskriminierung“ hänge eben stark von dem Diskriminierten ab.

 Eine verwirrende Argumentation, die vorgeblich die individuelle Freiheit bedrohter Randgruppen verteidigt. Selina Todd, Professorin für neue Geschichte an der Universität Oxford, sieht das anders. Todd, die sich selbst als „gender-kritische Feministin“ bezeichnet, wirft den Regenbogenaktivisten vor, mit ihrem totalitären Ansatz die akademische Freiheit zu bedrohen. 

„Ich brauchte tatsächlich Sicherheitspersonal, um meine Vorlesungen zu halten“, berichtet sie in einem Interview mit dem britischen Magazin Spiked und spricht von einer Einschüchterungskampagne gegen sie. Ihr Vergehen? Todd vertritt den Ansatz, daß Geschlecht biologisch und nicht sozial gewählt sei. Damit, so ihre Kritiker, diskriminiere sie Transfrauen und sorge für „Unterdrückung“. 

Plötzlich ist man ein Feind der Vielfalt

Eine Anschuldigung, die Todd weit von sich weist. Sie macht die politische Linke verantwortlich, die sich von „Lobbygruppen“ zu einer Genderagenda habe treiben lassen, die „radikal“ und unwissenschaftlich sei. 

Dabei verweist sie auch auf ein klassisches Problem der Zusammenarbeit staatlicher Stellen mit nichtstaatlichen Akteuren. Denn das Bildungsministerium ist ein „Diversity Champion“ des Stonewall-Vereins. Einer Interessengruppe der sogenannten LGBTQ-Gesellschaft, die Firmen, Institutionen und sonstige Einrichtungen auf ihre Regenbogenvielfalt abklopft. Am Ende der Zertifizierung steht dann das „Stonewall Certificate“. Ein Prozeß, der je nach Größe der Institution mehrere tausend Pfund kostet und dem Antragsteller schlußendlich bescheinigt, besonders tolerant zu sein. 

Wer aber dieses Zertifikat nicht verlieren will – und dadurch in den Ruch einer intoleranten Haltung kommen könnte – muß unter Umständen auch eine inhaltliche Verschiebung des Instituts mitmachen. Ein Kritikpunkt, der auch von Professorin Todd geteilt wird: „Das ist ein gefährlicher Ansatz. Denn Leute wie ich, die Geschlecht eben als biologisch ansehen, sind auf einmal Feinde von Vielfalt und gehen gegen das Zertifikat des Bildungsministeriums.“ 

Eine Sichtweise, die auch die Mitglieder der neu gegründeten Reclaim Party teilen. Die junge Partei greift die regierenden Torys mit dem Verweis auf die schrumpfende Meinungsfreiheit im Land an. „Wenn junge Akademiker so fragil sind, daß sie keine andere Meinung mehr ertragen können, dann sollte das nicht zur Einschränkung der Meinungsfreiheit führen“, so Parteivorsitzender Laurence Fox. Der Schauspieler hat bereits in der Vergangenheit für seine offene Kritik an einer, wie er es nennt, „erzwungenen Vielfalt“ einstecken müssen. 

Tatsächlich zeigt eine Umfrage der britischen Regierung, daß fast die Hälfte der britischen Staatsbürger ihre eigene Meinung nicht mehr frei und ohne Angst vor Benachteiligungen äußern. Ein beachtliches politisches Potential für die junge Partei. 

Die regierenden Konservativen setzen daher in ihrem neuen Papier auf universitäre Beauftragte für die freie Rede. Eine „Augenwischerei“, findet Professorin Todd und verweist erneut auf die Stonewall-Zertifizierung des Bildungsministeriums. Dort „mache man eben den Schwenk in der Ideologie mit“, und das sei hier das „wahre Problem“.