© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 09/21 / 26. Februar 2021

Verordnete Vielfalt
Strategiepapier zum Schutz sexueller Minderheiten: Die EU-Kommission will Gender-Belange künftig in alle Politikbereiche integrieren
Zita Tipold

England könnte eine beachtenswerte Kehrtwende in Sachen Gender-Politik vollziehen. Der Londoner High Court entschied im Dezember, daß Kindern unter 16 Jahren die Reife fehle, in eine Therapie einzuwilligen, die ihren Körper langfristig verändert. Darunter fallen auch die bei Transgender-Behandlungen verabreichten Pubertätsblocker, die den natürlichen Reifeprozeß verlangsamen. Nach Ansicht des High Courts ist diese Form der Behandlung so schwerwiegend, daß auch diejenigen Minderjährigen, die älter als 16 Jahre sind, künftig eine gerichtliche Erlaubnis beantragen müssen. 

EU-Kommission setzt auf „Gender-Mainstreaming“ 

Damit sorgte das Gericht für reichlich Empörung unter Befürwortern einer linksliberalen Gender-Politik, wie der Vorsitzenden der britischen Transgender-Organisation „Mermaids“, Susie Green. Kinder, die sich unklar über ihr Geschlecht seien, müßten künftig vor Gericht ziehen, um eine medizinische Grundversorgung zu erhalten, klagte sie. „Unabhängig von unseren Überzeugungen können die meisten von uns wohl darin übereinstimmen, daß es die Jugendlichen selbst sind, die ihre Bedürfnisse am besten verstehen – gemeinsam mit ihren Eltern und ihrem Arzt“, ist sich Green laut der britischen Tageszeitung The Guardian sicher.

 Die Londoner Richter erteilten den Forderungen der Gender-Lobby nach einem möglichst freien Zugang zu Geschlechtsumwandlungen mit ihrem Urtel eine Absage. Bei der EU zeigt sich hingegen ein gegenteiliger Trend: Die Kommission will mehr für sexuelle Minderheiten tun und viel „bunter“ werden. Im vergangenen November präsentierte sie ihre erste „LGBTIQ-Strategie“. Diese verfolgt vier Hauptziele: den Schutz sexueller Minderheiten, einen Kampf gegen deren Diskriminierung, die Schaffung einer LGBTIQ-freundlichen Gesellschaft und das Drängen auf die weltweite Gleichberechtigung von Betroffenen. Als Grund für das Vorhaben nennt die EU-Kommission einen angeblich fehlenden sozialen Anschluß der Betroffenen in der Gesellschaft. Diese seien nach wie vor Anfeindungen ausgesetzt. Das zeige unter anderem eine EU-Studie unter LGBTIQ-Angehörigen aus dem Jahr 2019.

 Demnach sollen sich rund 43 Prozent der Befragten im Alltag diskriminiert gefühlt haben. Auch von Arbeits- und Obdachlosigkeit seien sie deutlich häufiger betroffen. Die Strategie soll nun Abhilfe schaffen. Die Brüsseler Regierungsorganisation will darin die Idee des „Gender-Mainstreamings“ etablieren, das heißt Gender-Belange in möglichst alle Politikbereiche integrieren. Die „Employment Equality Directive“ (Vorschrift zur Gleichberechtigung bei der beruflichen Tätigkeit) aus dem Jahr 2000 hatte bereits festgelegt, daß Arbeitgeber Personen nicht aufgrund ihrer Herkunft, ihres Alters, einer Behinderung, ihres Glaubens oder ihrer sexuellen Orientierung benachteiligen dürfen.

 Das reicht der EU-Kommission nicht. Sie will nun eine „rigorose Anwendung dieser und weiterer Bestimmungen in den Mitgliedsstaaten“ sicherstellen. Dabei möchte Brüssel als Vorbild wirken. Die EU-Kommission hat angekündigt, ein „inklusives Arbeitsumfeld“ zu schaffen, indem sie LGBTIQ-Lehrgänge anbietet und verstärkt auf „gendergerechte“ Sprache setzt. Ähnliche Schritte sollen im Bildungssektor folgen. 

Hier sind unter anderem „geschlech­tergerechte“ Unterrichtseinheiten geplant. Beispielsweise soll über vermeintlich antiquierte „Gender-Stereotypen“ diskutiert werden, weil diese angeblich zu Vorurteilen und letztlich zu Haß führen. Die klassische Geschlechtervorstellung zu überwinden, werde dabei helfen, eine gerechtere Gesellschaft für alle zu formen, ist sich die EU-Kommission sicher. Das wissenschaftliche Forschungsprogramm der EU „Horizon Europe“ soll  des weiteren das Fach „Gender Studies“ fördern, das von der Grundannahme ausgeht, es gebe mehr als zwei Geschlechter, die zudem nicht an biologischen Gegebenheiten eines Menschen abzulesen seien. Für ihr Vorhaben hat sie schon mögliche Erfüllungsgehilfen im Visier: Medien, Kultur und Sport. Diese seien „mächtige Werkzeuge“ bei der gesellschaftlichen Einflußnahme. Eine „inklusive Bildung“ sei im Interesse aller Schüler und Bürger, führt die EU-Kommission in ihrem Papier aus. 

Ergänzend heißt es in dem Dokument: „Die geplante Strategie für Kinderrechte wird Schutz und Leistungen für LGBTIQ-Kinder sicherstellen.“ Die Brüsseler Regierungsorganisation geht demnach davon aus, daß bereits Kinder Angehörige einer sexuellen Minderheit sein können und will dahingehend ihre Rechte stärken. Seit 2013 hat sich die Zahl der Jugendlichen, die ihr Geschlecht operativ ändern lassen wollen, mehr als verfünffacht, berichtet die FAZ. 

„LGBTIQ-Haß“ soll Straftat werden

Folglich soll auch das Gesundheitswesen für entsprechende Behandlungen gerüstet werden. Geplant sind unter anderem Fortbildungen für medizinisches Personal, in denen dieses speziell im Umgang mit Homo- und Intersexuellen sowie Transgendern geschult wird. Für die Kritiker solcher Praktiken könnte es künftig schlecht aussehen. Die EU plant, die Liste der sogenannten „Haßverbrechen“ um Taten zu ergänzen, die sich vermeintlich gegen LGBTIQ-Angehörige richten. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) hatte bei der Vorstellung der Strategie bekräftigt, eine „Union der Gleichberechtigung“ schaffen zu wollen und dabei „kein Pardon“ zu kennen. „In der EU sollte sich jeder frei fühlen, er selbst zu sein, zu lieben, wen er möchte und dort zu leben, wo er möchte“, betonte die CDU-Politikerin.

 Mit einem Seitenhieb verwies sie in ihrer Rede auf das EU-Mitglied Polen, das seit 2019 immer mehr seiner Gebiete zur „LGBT-ideologiefreien Zone“ erklärt hatte, um Kinder und Familien vor „homosexueller Propaganda“ zu schützen. Man selbst zu sein, sei keine Frage der Ideologie, sondern eine Frage der Identität, kritisierte von der Leyen. LGBT-freie Zonen seien Gebiete, in denen der „Respekt vor Mitmenschen“ fehle. „Dafür gibt es in unserer Union keinen Platz.“ 

Auch Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán (Fidesz) hatte sich zuletzt immer wieder gegen Gender-Politik gestellt. „Ein gewöhnlicher Ungar weiß gar nicht, was LGBTIQ bedeutet, denn 99 Prozent der Gesellschaft betrifft das Thema überhaupt nicht“, hatte er gegenüber dem Kossuth Radio verdeutlicht. Im Dezember hatte das ungarische Parlament zudem beschlossen, den traditionellen Geschlechterbegriff in der Verfassung zu verankern. „Der Vater ist ein Mann, die Mutter ist eine Frau“, heißt es dort nun. Somit sind Regenbogen-Familienmodelle in dem Land künftig ausgeschlossen. Brüssel will dem aber einen Riegel vorschieben. Die LGBTIQ-Strategie beinhaltet auch eine verbindliche Bestimmung zur Anerkennung von Elternschaft zwischen den Mitgliedsstaaten. Damit wären nationale Sonderwege wie jener in Ungarn hinfällig. „Europa behauptet sich heute als Vorbild im Kampf um Vielfalt und Inklusion. Gleichheit und Nichtdiskriminierung sind Grundwerte und Grundrechte der Europäischen Union“, mahnte die für Gleichberechtigung zuständige EU-Kommissarin Helena Dalli im November. Jene Mitgliedsstaaten, die über keine nationale „LGBTIQ-Gleichstellungsstrategie“ verfügten, fordere sie auf, eine solche zu verabschieden.

 Wichtigster Ideengeber für die Belange sexueller Minderheiten in der EU, der auch den Anstoß zu dem Strategiepapier gegeben hat, ist die interfraktionelle LGBTI-Intergroup. Sie besteht aus 152 Abgeordneten des Parlaments. Damit ist sie die derzeit größte aller inoffiziellen Interessensgemeinschaften in der EU. Solche Zusammenschlüsse von Abgeordneten zählen nicht als offizielles Organ des EU-Parlaments, sie wollen mit ihrer Arbeit aber auf dieses wirken. Dabei widmen sie sich einem bestimmten Thema, das nicht unbedingt in den Arbeitsbereich der EU fällt. 

EU-Gruppe plant „Pride Märsche“

Sie sehe sich besonders als Kontroll­instanz, heißt es auf der Internetseite der Arbeitsgemeinschaft. Beispielsweise behalte sie im Blick, ob das Parlament bei seiner Gesetzgebung LGBTI-Angehörige berücksichtige. Falls ein Mitgliedsstaat mit seinen Entscheidungen gegen die vermeintlichen Interessen Betroffener verstoße, erinnere sie diesen an seine Pflicht, eben jene zu schützen. 

Die Gruppe betätigt sich auch auf gesellschaftlicher Ebene. Sie will als Brücke zwischen den EU-Institutionen und der europäischen Zivilgesellschaft wirken. Dafür arbeitet sie mit Nichtregierungsorganisationen zusammen und organisiert sogenannte „Pride-Märsche“, bei denen sexuelle Minderheiten zelebriert werden. Eine der beiden Vorsitzenden der LGBTI-Intergroup ist die deutsche Grünen-Politikerin Terry Reintke. Sie kündigte auf Twitter an, weiter für die europäische „Queer-Familie“ zu kämpfen und zeigte sich optimistisch, dabei zu siegen.





Was bedeutet LGBTIQ?

Hinter dem Buchstabensalat „LGBTIQ“ (Lesbian Gay Bisexual Trans Intersex Queer) verbirgt sich eine Sammelbezeichnung für sexuelle Minderheiten. Darunter fallen laut der EU-Kommission Lesben, Schwule und Bisexuelle sowie Personen, deren empfundenes Geschlecht nicht ihren angeborenen Geschlechtsmerkmalen entspricht, wie dies bei Transgendern oder nichtbinären Personen der Fall sei. Letztere empfinden ihre Geschlechtsidentität weder als ausschließlich männlich noch weiblich. Auch Intersexuelle, deren geschlechtliche Merkmale nicht klar den Kategorien Mann oder Frau zugeordnet werden können, werden zur Gruppe der sexuellen Minderheiten gezählt. Zudem gehören laut der EU auch „queere“ Menschen zu den LGBTIQ-Angehörigen. Diese ordnen sich einem Geschlecht außerhalb des Mann-Frau-Schemas zu. Grundidee der Gender-Theorie ist eine Unterscheidung zwischen den Geschlechtsmerkmalen eines Menschen (sex) und seiner Geschlechtsidentität (gender). Geschlechterrollen seien nur sozial konstruiert. Die Geschlechtszugehörigkeit hänge demnach allein vom Empfinden der betroffenen Person ab. Einen ersten Impuls zur Gender-Forschung gab das 1949 erschienene Buch „Das andere Geschlecht“ der französischen Philosophin Simone de Beauvoir. Ihre Ideen beeinflußten vor allem die „Frauenforschung“ in den USA, aus der die zweite Welle des Feminismus hervorging. Die amerikanische Philosophin Judith Butler entwickelte Beauvoirs Ansatz 1990 mit ihrem Buch „Das Unbehagen der Geschlechter“ weiter und gilt heute als Patronin der Gender-Theorie. Derzeit bieten auch elf deutsche Universitäten das Studienfach „Gender Studies“ an. (zit)