© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 09/21 / 26. Februar 2021

Die Pluralisierung der Lebensstile erreicht die Friedhofskultur
Seniorensport zwischen Gräbern
(ob)

Der Friedhof ist der Platz, an dem Tote beerdigt sind und der den Angehörigen einen Raum des Gedenkens gibt“. Eine solche, nur scheinbar erschöpfende Beschreibung genügt dem Architektur- und Sozialpsychologie lehrenden Soziologen Kai Schuster (Hochschule Darmstadt) angesichts „moderner“ Nutzungsänderungen des einstigen „Totenackers“ bei weitem nicht. Denn „Orte stiller Einkehr, Schnittstellen zwischen dem Jenseits und dem eigenen Leben“ sind zumindest berühmte großstädtische Friedhöfe, „Touristenmagneten“ wie der Pariser Père-Lachaise, der Hamburg-Ohlsdorfer oder der Wiener Zentralfriedhof, schon lange nicht mehr. Da jedes kulturelle Milieu seine „berühmten Toten“ habe, ziehen solche Orte zwar auch heute noch viele Menschen an, die „Prominente besuchen“ wollen. Aber die zunehmende Faszination der Friedhöfe lasse sich damit nicht erklären, meint der Wissenschaftstheoretiker Schuster. Vielmehr zeige sich in der verstärkten Nutzung von Friedhöfen als „grüne Oasen der Biodiversität, naturnahe, der Entschleunigung dienende Erholungsräume und Stadtökosysteme“ die Expansion des „Diesseits“ in Vorplätze des Jenseits. In dieser Marginalisierung religiöser Dimensionen des Todes sieht Schuster eine unvermeidliche Zeiterscheinung: Das gesellschaftliche Phänomen der Pluralisierung erreiche eben früher oder später jeden Friedhof. Daher gebe es etwa auf dem Dortmunder Hauptfriedhof einen Spielplatz – sinnigerweise mit Seniorensportgeräten. Eigentlich nichts Neues, denn schon 1800 waren Picknicks zwischen Grabstätten auf dem Kopenhagener Assistenzfriedhof „soziale Praxis“ (Psychologie heute, 2/2021). 


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