© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 09/21 / 26. Februar 2021

Der harten Wahrheit auf der Spur
Die Freiheit und die „Bande der aufgeklärten Erbaulichkeitsdealer“: Zum 30. Todestag von Bernard Willms
Dag Krienen

Wenn die Thesen, die der Bochumer Professor Bernard Willms 1986 in seinem Buch über „Idealismus und Nation“ veröffentlichte, heute ein deutscher Gelehrter öffentlich verträte, würde er sofort ein Opfer der „Cancel Culture“ werden: 

„Wir wissen jetzt, was Freiheit ist und was es bedeutet, daß der Mensch nichts anderes hat als sich selbst, also seine Freiheit. (...)

Es bedeutet, daß gut und böse Wirklichkeiten der Freiheit sind.

Es bedeutet, daß Macht und Gewalt zur Freiheit gehören.

Es bedeutet, daß für alle Aufgaben, die sie für ihre Existenzverwirklichung vor sich haben, die Menschen niemand anderes in Anspruch nehmen können als sich selbst.

Es bedeutet, daß sie alle Ordnung selber machen müssen.

Es bedeutet, daß sie die notwendigen Grausamkeiten selbst begehen müssen.

Es bedeutet, daß sie die Freiheit nur je ‘für uns’ verwirklichen können, und dieses ‘für uns’ bezieht sich auf ein ‘wir’, das andere von sich unterscheidet.

Es bedeutet die Unterscheidung von Freund und Feind.

Es bedeutet, daß historische Gewalt unausweichlich war.“

Doch Mitte der achtziger Jahre war das Klima der politischen Gängelung hierzulande noch nicht so weit gediehen. Zwar gab es Proteste linker studentischer Kreise. Doch schützte die Institution Universität damals noch die Freiheit der Lehre. Willms Bochumer Kollegen verkehrten trotz gelegentlich geäußerten Unverständnisses darüber, warum sich ein ausgewiesener Fachmann der Hobbes-Forschung durch solche Thesen ins karrierepolitische Abseits stelle, weiterhin meist ungezwungen und auch freundschaftlich mit ihm. 

Bernard Willms, am 7. Juli 1931 in Mönchengladbach geboren, absolvierte zunächst eine Buchhändlerlehre, studierte dann in Köln und Münster Philosophie, Soziologie und Deutsch. 1964 promovierte er bei Joachim Ritter über Fichtes politische Philosophie und wurde nach seiner Habilitation 1969 an der Ruhr-Universität Bochum im Jahr darauf dort Professor für Politische Theorie und Geschichte der Politischen Ideen.

Willms verstand sich vor allem als Philosoph. Als solcher profilierte er sich als ein intimer Kenner der politischen Theorien des Engländers Thomas Hobbes (1588–1679) und galt als führender Hobbes-Spezialist in Deutschland. Doch beschäftigte er sich auch mit der Theorie der internationalen Politik. Aus der Tatsache, daß es seit dem Abschluß der Dekolonisierung nur noch Nationalstaaten, also völkerrechtlich nur noch eine Vielfalt politischer Subjekte, aber keine fremdbestimmten politischen Objekte mehr gab, zog Willms Anfang der achtziger Jahre Konsequenzen.

Nationen als einzige Form politischer Existenz

In seinem Buch über „Die Deutsche Nation. Theorie – Lage –Zukunft“ (1982) entwickelte er die Idee der Nation als zentrale, nicht hintergehbare moderne politische Ordnungskategorie. Stark vereinfacht gesagt, verband er dabei Hobbes Staatsmodell mit der dialektischen Philosophie Georg Wilhelm Friedrich Hegels und des deutschen Idealismus. Für Willms war Hobbes der erste durch und durch moderne Philosoph, der nach dem Ende der religiösen Gewißheiten aus der Tatsache, „daß der Mensch nichts anderes hat als sich selbst, also seine Freiheit“, die politischen Konsequenzen zog und in seinem Buch „Leviathan“ (1651) die Grundstrukturen eines Staatswesens beschrieb, das durch angedrohten Zwang den Menschen überhaupt erst ein soziales und gesichertes Leben ermöglichen konnte – statt eines ansonsten unvermeidlichen „bellum omnia contra ommnes“, eines permanenten Krieges aller gegen aller.

Menschen können, wenn sie die Notwendigkeit staatlicher Zwangsgewalt als Bedingung ihrer individuellen Existenz und Freiheit akzeptieren, den jeweiligen Staat, dessen Gewalt sie unterworfen sind, als den ihrigen begreifen, indem sie als Bürger einer konkreten Nation zu Mitgestaltern ihres gemeinsamen politischen Schicksals in Freiheit werden. Nationen sind keine anhand von natürlichen Grenzen, Ethnizität oder gar biologischen „Rassen“ objektiv eindeutig zu bestimmende Größen, sondern sich historisch-kontingent entwickelnde politische Gemeinschaften freier Bürger und können vielfältige Gestalt annehmen. 

Sie stellen in der Moderne für Willms die einzige Form politischer Existenz dar, in der die Menschen Freiheit und Selbstbestimmung im Gehäuse der notwendigen Zwänge des politischen Zusammenlebens sichern können. Nationalstaaten sind sehr wohl zu einem kooperativen Zusammenleben in Selbstbehauptung und wechselseitiger Anerkennung fähig. Sie stellen die vernünftigste Form lebbarer und lebenswürdiger politischer Ordnung freier Bürger auf diesem Planeten dar, während irgendwelche Weltstaatsstrukturen, übernationale Imperien oder globale „Zivilgesellschaften“ die Menschen bestenfalls in bloße Untertanen zurückverwandeln.

Diese Idee der Nation von Willms wurde in dieser Zeitung mehrfach zum Gegenstand gemacht (JF 4/91, 33/97, 46/04, 29/06, 2/17). Hier soll noch ein anderer Aspekt hervorgehoben werden: Willms strenge Auffassung von „Freiheit“ als zentrales Kennzeichen der conditio humana in der Moderne. Das Politische – die Regulationen der allzeit gefährlichen Konsequenzen dieser Freiheit – konstituierte für ihn ein Reich strenger Notwendigkeiten, an das die Maßstäbe privater Moral nicht angelegt werden können. Willms nahm wie Hobbes und Hegel den Grundbefund menschlicher Freiheit in einem radikalen Sinne ernst, die nicht nur das Beste, sondern auch das Schlimmste möglich werden ließ. Wo die Menschen auf ihre bloße Freiheit zurückgeworfen werden, ohne institutionellen Hemmungen zu unterliegen, wäre ein halbwegs erträgliches Leben kaum möglich.

Der größte Vorwurf, den Willms einem Gegner machen konnte, war der eines bloß „erbaulichen“ Denkens, das die unerfreulichen und harten Konsequenzen durch ihre bis zur Wahrnehmungsverweigerung gehende Verdrängung oder weichspülende Interpretationen verleugnet. Dem „erbaulich“ Denkenden geht es nicht um die notwendig auch harte Seiten zeigende Wahrheit, sondern eben um die eigne „Erbauung“, den inneren „Seelenfrieden“, das „gute“ Selbstbild, die Gewißheit, zu den Richtigen, den moralisch „Guten“ zu gehören. Eine Haltung, die jede kognitive Dissonanz, jede Störung und jeden Störer auf teilweise äußerst aggressive Art auszuschalten sucht.

Strenge Idee von Freiheit und politischer Ordnung

Einer seiner Kollegen bemerkte einmal, daß er nie einem Menschen begegnet sei, der persönlich so liberal und liebenswürdig gewesen sei wie Bernard Willms, aber politisch eine so illiberale Einstellung vertrat. Willms war tatsächlich ein entschiedener Gegner eines politischen Liberalismus (links wie rechts), der Freiheit nur „erbaulich“ auffaßt, als eine rein positive Errungenschaft, deren im Endeffekt wohltätiges Wirken durch eine „unsichtbare Hand“ garantiert sei. „Aber das Bedürfnis nach Liberalität, die niemandem weh tut und allen Glück verspricht, geht auf Kosten der Menschen. Wer die Freiheit erbaulich will – und der Liberalismus ist die erbauliche Schwundform der Freiheit –, der umarmt Wolken und erzeugt Monstren, technische, mörderische.“

In den achtziger Jahren ging Willms noch davon aus, daß eine strenge Idee von Freiheit und politischer Ordnung zumindest bei den maßgeblichen Eliten noch Unterstützung finden würde. Zwar war ihm bewußt, daß „nicht die harte Forderung, sondern die erbauliche Bestätigung der eigenen Vorzüglichkeit, der eigenen Selbstsucht, das Versprechen von Glück (...) Bedürfnis jener Massen [ist], für die die ‘Aufklärer’ sich als ‘öffentliche Meinung’ etablierten.“ Daß jedoch die intellektuelle „Bande der aufgeklärten Erbaulichkeitsdealer“ einen so totalen Triumph wie derzeit erleben würde, der jede politisch-institutionelle Vernunft hinwegzufegen droht, mußte er nicht mehr erleben. Bernard Willms schied vor 30 Jahren, am 27. Februar 1991, von eigener Hand aus dem Leben.