© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 10/21 / 05. März 2021

Inflation durch Geldüberhang
Euro-Politik: Die Verbraucherpreise ziehen an / Dämpfende Effekte bleiben mittelfristig bestehen – und danach?
Dirk Meyer

Die Preise ziehen an. Die Inflationsrate – gemessen am Verbraucherpreisindex (VPI) – stieg auf Jahresbasis von Dezember zum Januar von -0,3 auf 1,0 Prozent. Der auf Basis der EU-Statistik berechnete Harmonisierte Verbraucherpreisindex (HVPI) erhöhte sich von -0,7 auf 1,6 Prozent. Er hat eine andere Berechnungsgrundlage: Sein Warenkorb beruht auf aktuelleren Konsumausgaben, und selbstgenutztes Wohneigentum bleibt unberücksichtigt.

Deshalb fließen Mieten beim HVPI mit 6,15 Prozent, beim VPI mit 20,7 Prozent der Haushaltsausgaben ein. Nach Schätzungen der Bundesbank wird der HVPI dadurch um 0,2 bis 0,3 Prozentpunkte niedriger ausgewiesen. Dies zeigt, wie abweichende Preissteigerungsraten entstehen. Auch deshalb ist die Geldmengenausweitung der EZB zur Erreichung des Inflationszieles von „auf mittlere Sicht unter, aber nahe zwei Prozent“ kritisch zu sehen.

Kommt also die Inflation zurück, wie die Ökonomen Hans-Werner Sinn, Larry Summers oder Olivier Blanchard warnen? Die Ursachen dieses kurzfristigen Anstiegs sind deutschen Umständen geschuldet: der Wiederanhebung der Mehrwertsteuersätze, der „CO2-Bepreisung“ (JF 7/21) und der Anhebung des Mindestlohns von 9,35 auf 9,50 Euro. Zudem fällt dieses Jahr der Winterschlußverkauf mit seinen Angeboten aus. Bislang haben sich die gegenläufigen Auswirkungen der durch die Corona-Krise verursachten Angebots- und Nachfrageänderungen auf die Preise eher ausgeglichen. Vielmehr stiegen die Sachvermögenspreise 2020 stark an: Wohnimmobilien um 7,5 Prozent, die Preise für Betriebsvermögen um 14,3 Prozent, Gold um 14,4 Prozent. Der Preis für das Finanzvermögen (Aktien, Anleihen und Spareinlagen) deutscher Haushalte liegt zum Jahresende mit 0,4 Prozent hingegen nur leicht im Plus.

Einige preisdämpfende Effekte dürften mittelfristig bestehen bleiben. Hierzu zählen die Digitalisierung, eine beruflich abnehmende Mobilität und eine sinkende Nachfrage nach Gewerbeimmobilien. Die Rückkehr zur Normalität wird jedoch von Preissteigerungen begleitet sein. So werden nicht nur Restaurants versuchen, die durch Corona-Maßnahmen gesunkenen Produktivitäten und Umsatzeinbußen über die Preise wieder hereinzuholen.

Der während des Lockdowns zurückgestaute private Konsum dürfte die gesamtwirtschaftliche Nachfrage wieder steigen lassen, sobald die Haushalte ihre aufgestaute Kaufkraft für nachholenden Konsum verausgaben: größere Anschaffungen, Urlaubs- und Städtereisen, Kreuzfahrten oder Kulturveranstaltungen. Mit zunehmender Auslastung der Produktion entsteht ein Aufwärtsdruck auf die Verbraucherpreise. Firmen werden zuversichtlicher, und die Investitionstätigkeit wird anziehen.

Die Zentralbankgeldmenge wuchs um über 260 Prozent

Viele Kapazitäten wurden befristet stillgelegt – etwa bei den Airlines, im Hotelgewerbe. Sie müßten zunächst wieder reaktiviert werden. Zudem haben sich einige Geschäftsmodelle wie manche Kaufhäuser oder teure Bankfilialen wohl überholt. Einhergehend werden bestehende Produktionsmöglichkeiten entwertet, Geschäfte, Büros oder Callcenter schließen – Homeoffice scheint billiger. Es kommt zu Konkursen, Neues muß aufgebaut werden.

Geraten Kapazitäten an ihre Auslastungsgrenzen, dann steigen die Preise auf breiter Front. Hohe Wachstumsraten, eine schnelle Rückkehr zum Vorkrisenniveau, Angebotsengpässe – dies könnte eine zeitweise Überhitzung und Preissteigerungen auslösen. Die einhergehende Kreditnachfrage bei den Geschäftsbanken läßt zudem die Giralgeldmenge ansteigen, verbunden mit weiterem inflationären Druck. Dann könnte auch die deutsche Lohnzurückhaltung enden und eine Lohn-Preis-Spirale wie in den 1970er Jahren in Gang setzen.

Wesentlicher sind jedoch die langfristigen Inflationsgefahren. Als Reaktion auf die Corona-Krise haben die Notenbanken des Eurosystems die Menge an Zentralbankgeld enorm ausgeweitet. Sie war im Januar erstmalig größer als fünf Billionen Euro – ein Anstieg von 60 Prozent innerhalb eines Jahres. Zu gleicher Zeit sank das Bruttoinlandsprodukt des Euroraums um zirka sechs Prozentpunkte. Ähnliches kann seit 2015 beobachtet werden, dem Beginn der verschiedenen Programme zum Ankauf von Staatsanleihen durch die EZB (JF 9/21).

Während das Euroraum-BIP seither um zehn Prozent anwuchs, stieg die Zentralbankgeldmenge im selben Zeitraum um mehr als 260 Prozent. Wirtschaftsleistung und Zentralbankgeldmenge wurden entkoppelt. Doch warum kam es bislang zu keiner nennenswerten Inflation? Die von der EZB zusätzlich geschaffene Liquidität ist in Geldhorte geflossen. So haben Banken derzeit eine Überschußliquidität von etwa drei Billionen Euro bei der EZB geparkt, ohne daß dieses Geld in den Wirtschaftskreislauf geflossen ist.

Zieht die Kreditnachfrage an, dann steht den Banken ein erheblicher ausschöpfbarer Liquiditätsspielraum zur Verfügung, der dann die Realwirtschaft erreichen wird. Berechnungen unseres Hamburger Instituts zeigen, daß der Abbau des mit Beginn der geldpolitischen EZB-Sondermaßnahmen seit 2015 entstandenen Geldüberhangs einer Geldentwertung von rund 70 Prozent entspräche.

Dem könnte die EZB entgegensteuern, indem sie die angekauften Anleihen wieder veräußert. Mit den erzielten Einnahmen würde sie die Überschußliquidität abschöpfen. Angesichts des Umfangs von 2,6 Billionen Euro wären allerdings erhebliche Kursverluste der Anleihen und Zinsanstiege wahrscheinlich. Sie könnten Krisenstaaten zukünftig den Kreditzugang versperren. Ebenfalls müßten Banken und Versicherungen umfängliche Abschreibungen vornehmen. Es droht eine erneute Staaten- und Bankenkrise. Die EZB scheint daher in eine Sackgasse geraten.






Prof. Dr. Dirk Meyer lehrt Ökonomie an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.