© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 10/21 / 05. März 2021

Aus ethischen Gründen
Kolonialgüter: Ein neuer Museumsleitfaden drängt auf freiwillige Rückgaben
Paul Leonhard

Mehr als 1.600 ethnologische Objekte hat der Völkerkundler Karl Weule Anfang des 20. Jahrhunderts aus Deutsch-Ostafrika nach Leipzig gebracht. Die Bürger zeigten sich von der Kleidung, dem Schmuck, den Masken, Amuletten, Waffen, Fallen, Zaubergegenständen und Musikinstrumenten begeistert. 5.000 Reichsmark stellte der Stadtrat für den Ankauf zur Verfügung. Bewundern können die Leipziger das exotische Sammelsurium bisher im 1869 gegründeten Völkerkundemuseum. Aber vielleicht nicht mehr lange. Denn über die ihm besonders wichtigen 60 Makonde-Masken notierte Weule in seinem Reisetagebuch, daß sie „nur durch List, entschiedenes Auftreten und Ausdauer zu erlangen“ gewesen seien.

Ein klarer Fingerzeig für die Tugendwächter der Museumslandschaft, genauer hinzusehen, wie Weule seine Schätze erwarb. Ethnologische Sammlungen stehen unter Generalverdacht, seitdem die kurze Geschichte der deutschen Kolonialzeit neu geschrieben wird. Sammlungen, die einst Naturforscher, Händler, Abenteurer teilweise ein Leben lang zusammentrugen, um sie dem Museum ihrer Heimatstadt zu schenken, werden wohl bald in alle Winde zerstreut und einzelne Objekte, insbesondere Kultgegenstände, dem allmählichen Zerfall überlassen.

Eine seltsame Lust, sich von all diesen Dingen zu trennen, sie in die Herkunftsregionen zurückzugeben, hat die Museen erfaßt. Es gibt zwar – abgesehen von menschlichen Überresten – „so gut wie gar keine Rückgabeforderungen“, wie die Kunsthistorikerin Wiebke Ahrndt im Deutschlandfunk einräumt, aber die Sammlungen sollten sich schon heute „grundsätzlich positiv dazu stellen, daß es auch sein kann, daß Sammlungsgut das Museum wieder verläßt und in ein Herkunftsland zurückgegeben wird“.

Eine „offene Haltung gegenüber Rückgaben“ empfiehlt auch der gerade der Öffentlichkeit vorgestellte, neu überarbeitete, 219 Seiten umfassende Leitfaden des Deutschen Museumsverbundes als „praxisorientierte Arbeitshilfe für alle deutschen Museen zum Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten“, an dem Ahrndt als Direktorin des Übersee-Museums in Bremen federführend mitgewirkt hat. Ging es in den ersten Ausgaben vor allem um rechtliche und ethische Fragen, also unter welchen Umständen Objekte in die Sammlungen gekommen sind, sind die Experten um Eckart Köhne, Präsident des Deutschen Museumsbundes, inzwischen zu der Ansicht gelangt, daß es auch Sammlungsgut geben kann, das „vielleicht komplett legal und ethisch völlig korrekt in die Sammlung gekommen ist, das aber eine derart herausragende Bedeutung in der Herkunftsgesellschaft hat, daß es einen guten Grund gibt, es doch an diese zurückzugeben“, so Ahrndt. Auch müßten die Erwerbshintergründe nach „neuen Maßstäben beurteilt“ werden, sekundiert Köhne.

Fast scheint es so, als würden die Leitungen der deutschen ethnologischen Sammlungen sehnsüchtig darauf warten, endlich von der Last des in den Vitrinen ausgestellten und noch mehr der in den Depots lagernden Kulturzeugnisse fremder Völker befreit zu werden. „Soweit sie noch nicht bestehen, sind rechtliche und finanzielle Grundlagen dafür zu schaffen, daß Museen dann, wenn es angezeigt ist, Sammlungsgut an Herkunftsländer und -gesellschaften zurückgeben können“, verlangt Köhne.

Dazu werden erste Inventare, ja ganze Sammlungen online gestellt und die Provenienzforschung vorangetrieben. Zwar versichert Markus Hilgert, Generalsekretär der Kulturstiftung der Länder, daß es „in erster Linie“ nicht darum gehe, die Museen leer zu räumen, sondern um den „Umgang mit der Tatsache, daß in Deutschland sehr viele Museen Objekte aus außereuropäischen Ländern aufbewahren, von denen wir nicht wissen, wie sie nach Deutschland gekommen sind, oder von denen wir wissen, daß sie unter fragwürdigen Umständen oder unter Ausnutzung kolonialer Machtstrukturen nach Deutschland gekommen sind.“

Hilgert war dabei, als Anfang 2019 die im Linden-Museum in Stuttgart seit 1902 aufbewahrte Bibel und die Peitsche des Nama-Anführers Hedrik Witbooi an die Regierung Namibias übergeben wurden. Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz übergab der Chugach Alaska Corporation mehrere Objekte aus einer Grabplünderung, das Kölner Rautenstrauch-Joest-Museum einen tätowierten Maori-Schädel an Neuseeland.

Das Linden-Museum gilt als Vorreiter in der Provenienzforschung. Im Rahmen des Pilotprojektes „Schwieriges Erbe“ untersuchten Museumsmitarbeiter gemeinsam mit der Universität Tübingen rund 25.400 Stücke aus Namibia, Kamerun und dem zu Papua-Neuguinea gehörenden Bismarck-Archipel. Rund 85 Prozent dieser Objekte kamen zwischen 1900 und 1920 durch rund 300 Personen wie Kolonialbeamte, Händler, Militärangehörige und Forscher in die Sammlung.

Fast alle Museumssparten würden Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten beinhalten, heißt es in dem Leitfaden. So haben zum Beispiel Naturkundemuseen ihre außereuropäischen Sammlungen in großen Teilen vor 1960 angelegt, stammen viele Archäologika aus Ländern, die ehemals zum Osmanischen Reich gehörten, verfügen Technikmuseen über die Gerätschaften, mit denen die Kolonialgebiete erschlossen wurden, wie etwa Lokomotiven oder Telekommunikationsgeräte.

„Museumsverantwortlichen sollte bewußt sein, daß die meisten Sammlungsgüter nicht als Museumsobjekte entstanden sind oder hergestellt wurden“, heißt es belehrend im Leitfaden: „Die Erwerbung oder Entstehung von Sammlungsgut kann in kolonialen Kontexten in Zusammenhang mit Ausübung von Gewalt und/oder ausgeprägten Abhängigkeitsverhältnissen stehen.“ Auch könnten „sich in Sammlungsgut, das kolonialen Kontexten zugeordnet werden kann, diskriminierende Darstellungen und koloniale oder rassistische Ideologien widerspiegeln.“ Kurz gesagt, alles ist gefährlich kontaminiert.

Damit etwaige Rückgaben geordnet erfolgen, Objekte haushaltsrechtlich freigegeben werden und das deutsche Kulturschutzgesetz eingehalten wird, hat die Bundesregierung 2020 eine zentrale „Anlaufstelle für Restitution von Kolonialobjekten“ eingerichtet. In dieser können sich Menschen und Institutionen aus Herkunftsstaaten über die Bestände in Deutschland informieren. Allein das Ethnologische Museum der Stiftung Preußischer Kulturbesitz umfaßt eine halbe Million Objekte.

Einen Rechtsanspruch auf Rückgabe gibt es nur äußerst selten, wie im Leitfaden eingeräumt wird: „Die derzeit geltende Rechtsordnung hält keine geeigneten Instrumente zur Klärung von Eigentumsfragen rund um Erwerbungen aus kolonialen Kontexten bereit.“ Trotzdem dürfen Museen nach Ansicht des Museumsverbandes Objekte weggeben: Es gebe „mittlerweile einen breiten politischen Konsens, daß solche Rückgaben aus ethischen Gründen angezeigt sein können“.

Die freiwillige Rückgabe nimmt im Leitfaden einen so breiten Raum ein, daß die meisten Direktoren schon begreifen dürften, was von ihnen verlangt wird. Gleichzeitig werden sie auf Fallstricke hingewiesen. So müsse aufgepaßt werden, daß man nicht in innenpolitische Konflikte eines Herkunftslandes verwickelt werde. Sorgfältig zu prüfen sei auch die Verbindung zwischen der Herkunftsgesellschaft und dem Sammlungsgut: „Schwierigkeiten können sich daraus ergeben, daß Gruppenzugehörigkeiten sich mit der Zeit geändert haben oder Herkunftsgesellschaften in anderen ethnischen Gruppen aufgegangen sind.“

Foto: Bibel des namibischen Nationalhelden Hendrik Witbooi: Das Linden-Museum in Baden-Württemberg hat dieses Kolonialgut und ein weiteres 2019 an Namibia zurückgeben. Beide wahrscheinlich im Jahr 1893 von deutschen Kolonialtruppen erbeutete Objekte waren 1902 als Schenkung in den Besitz des heute vom Land und der Stadt Stuttgart getragene Museum gekommen.