© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 10/21 / 05. März 2021

Es fehlt der erhellende Geistesblitz
Im Corona-Ausnahmezustand haben Kunst und Kultur ihre relative Autonomie aufgegeben
Thorsten Hinz

Die Kritik aus der Kultur- und Kunstszene an den Umständen des Corona-Lockdowns betrifft vor allem das faktische Arbeitsverbot und die eigenen Verdienstausfälle. Unterbelichtet bleiben die geistig-kulturellen, die gesellschaftlichen und politischen Dimensionen der vom Staat verordneten Einschränkungen. Das ist bemerkenswert, weil Künstler und Kulturinstitutionen sonst keine Scheu haben, staatliche Maßnahmen oder Unterlassungen frontal anzugehen.

Die Wortmeldungen zum Lockdown klingen servil und affirmativ. Die Forderung nach Kunst- und Kulturfreiheit wird gleichsam als Ergebenheitsadresse an die Regierenden formuliert: Der Lockdown sei prinzipiell richtig, doch nun bestehe die Gefahr, daß die Frustrationen, die er auslöse, „den Rechten“ in die Hände spielten. Weil Kultur und Kunst über die Fähigkeit verfügten, dem entgegenzutreten, müsse die Regierung ihnen Raum für ihre heilsame Tätigkeit geben („Das Denken verändern“, JF 53/20–1/21). Man wendet sich nicht offensiv gegen die autoritäre Politik, sondern bittet darum, an ihr teilhaben und ihre Nebenwirkungen abschwächen zu dürfen, auf daß die Therapie desto nachhaltiger wirke.

Neuverteilung und Monopolisierung von Macht

Vorläufiger Höhepunkt ist ein Aufsatz, den der Bestsellerautor Thomas Brussig („Helden wie wir“, „Das kürzere Ende der Sonnenallee“) kürzlich in der Süddeutschen Zeitung unter dem Titel „Mehr Diktatur wagen“ veröffentlicht hat. Als Antwort auf Corona müsse es mit den Umständlichkeiten der Demokratie ein Ende haben, damit „der Pandemiebekämpfer seinen Werkzeugkoffer auch in einer Demokratie auspacken“ könne. Interessant ist eine nachgeschobene Begründung: „Daß ausgerechnet die Corona-Leugner eine ‘Corona-Diktatur’ heraufziehen sehen, sollte erst recht Grund sein, sie zu wollen.“ Indirekt – und vielleicht unbeabsichtigt – räumt er ein, daß das Virus mehr ein politisches als ein medizinisches Phänomen darstellt. 

Brussig hat sich mit seinen Büchern als passabler Spaßvogel der Literatur profiliert. Man möchte hoffen, daß er auch diesmal bloß Spaß gemacht und den Advocatus diaboli gespielt hat, um seinen in die Jahre gekommenen Literaten-Ruhm wieder aufzufrischen. Andererseits paßt sein Text nur zu gut in das Affirmationsmuster. In diesem Kontext liest es sich wie ein Empfehlungsschreiben an die Politik: Wenn die Zuschauer altbackene Corona-Deuter wie Karl Lauterbach satt haben, müssen Propagandisten mit Unterhaltungswert ran: Könner wie wir!

Gegenläufige Tendenzen äußern sich schüchtern. In München hat sich eine Initiative „Aufstehen für die Kunst“ zu Wort gemeldet. Ihre bekanntesten Vertreter sind die Violonistin Anne-Sophie Mutter und die Opernsänger Christian Gerhaher und Rolando Villazón. Gegebenenfalls wollen sie vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof gegen die anhaltende Schließung von Kultureinrichtungen klagen. Christian Gerhaher monierte „das offensichtlich geringe Interesse an den Künsten von seiten der Politik in diesen Zeiten“. Die Initiatoren empfinden Äußerungen aus der Politik zum Kulturbereich als kränkend, etwa die Einreihung unter „Freizeiteinrichtungen“ und die Nennung von Veranstaltungsstätten im Zusammenhang mit Bordellen. 

So richtig die juristische Gegenwehr ist, sie ersetzt nicht die inhaltliche, politische und ästhetische Kontroverse über die Zombifizierung der Gesellschaft, den Verlust sozialer Kontakte und Techniken, den Schwund an kulturellem Basiswissen, über das Absterben und die Vermüllung der Innenstädte infolge der Corona-Maßnahmen. Der Generalsekretär der CSU dekretiert in einem Zeitungsinterview, jede „Erleichterung“ der aktuellen Einschränkungen der Bürgerrechte könne „nur auf Bewährung stattfinden“. Für den CSU-Mann ist der Staat also eine Art Strafkolonie, in der ihm und seinesgleichen die Aufsicht obliegt. Im „Interview über die Corona-Pandämonie“, nachzulesen in Bernd Wagners Satire-Buch „Mao und die 72 Affen“, ist vom „mittels einer Negativauslese“ rekrutierten Kaderpersonal die Rede, „das für eine anspruchsvollere Berufskarriere zu wenig Ausdauer, Fleiß und Intelligenz besitzt, dafür aber die für die Regierungstätigkeit unabdingbaren Eigenschaften wie ausdauerndes Sitzfleisch, Rückgratlosigkeit und scharfe Ellenbogen“ besitzt. So muß es gehen!

Im Zeichen von Corona findet auf den Mikro- wie auf der globalen Makroebene eine Refeudalisierung, eine Neuverteilung und Monopolisierung von politischer, ökonomischer und kommunikativer Macht statt. Und kein „kreativer Protest“, den die Kulturszene bei anderen Gelegenheiten so freigiebig in die Öffentlichkeit trägt, erhebt sich dagegen, kein Geistesblitz erhellt das Gelände.

Der Schriftsteller Marcel Beyer, immerhin Träger des Büchner-Preises, bekundete im Sommer 2020 gegenüber dem MDR, einen großen Gefallen an seinen Mitmenschen gefunden zu haben. „In dieser Corona-Zeit habe ich es sehr genossen, daß eine große Disziplin und eine Einsicht in die Notwendigkeit bestehen. Es war so eine Ernsthaftigkeit unter allen, aber zugleich eine große Zugewandtheit, also die Menschen haben sich nicht voneinander abgekehrt, aber sie wußten, wie gefährlich es wäre, eine gewisse Distanz zu unterschreiten.“ Das habe „etwas Magisches“ gehabt. Einen Monat zuvor war im Staatssender ARD verkündet worden, daß es eine Rückkehr in die alte Normalität nicht mehr geben werde. 

Davon unbeeindruckt, ist Beyers Identifizierung mit der Politik total. Sie entäußert sich in einem Vokabular, das an Carl Schmitts „Politische Theologie“ erinnert. Das „Magische“, von dem Beyer spricht, verweist auf das „Wunder“, die theologische Entsprechung zur revolutionären „Entscheidung“ in der Politik. Der politische Dezisionismus, der im Begriff ist, eine „neue Normalität“ zu implementieren, wird mit Rückgriff auf die „Notwendigkeit“ – die säkulare Bezeichnung für das „göttliche Gesetz“ – in metaphysische und damit unangreifbare Höhe gestemmt. 

Abweichler werden gnadenlos abgestraft

Zurückhaltender äußerte sich zwar der Lyriker Durs Grünbein: „Ich weiß im Moment nicht weiter. Wenn ich in mich gehe, würde ich sagen, da ist eine Art Corona-Depression am Werk.“ Doch ein aktuelles Gedicht signalisiert Zustimmung: „Es gibt kein Theater mehr, / Kinos und Bars sind geschlossen / in den Zeiten der Pandemie.“ Das freilich ist sozialistischer Realismus vom feinsten! Grünbein akzeptiert die „Pandemie“ – im Gestus der Trauer zwar – als Letztbegründung der aktuellen Politik.

Auf ähnlichem Niveau bewegt sich der Musikkabarettist Bodo Wartke mit seinem Lied „Christian Drosten“: Während in anderen Ländern Verrückte wie Trump etc. das Sagen hätten, verfügten wir mit dem Virologen Drosten über eine Stimme der Vernunft. Und wenn Sänger im Videostream aus ihren Wohnstuben zu einem Chor zusammengeschaltet werden und Lieder wie „Gemeinsam allein“ anstimmen, ist das ebenfalls keine Aufhebung des Corona-Regimes in der Kunst, sondern seine Ästhetisierung.

Mit dem frühen Peter Handke ließe sich von einer „Beschreibungsimpotenz“ sprechen. Sie korrespondiert mit einer verbreiteten Erkenntnisimpotenz, die einen langen, bis in die Untiefen der Hypermoral und der „Reeducation“ reichenden Vorlauf hat. Den meisten Künstlern sind die schiefen Voraussetzungen ihrer Sichtweise gar nicht mehr bewußt. Als Pegida gegen den Dezisionismus der Grenzöffnung und die absehbaren Einbrüche in die eigene Lebenswelt protestierte, sah Marcel Beyer „eine Koalition opportunistischer Brüllbedürftiger den öffentlichen Raum“ durch „dumpfes Heulen, grauenvolle Reden und des Zornes Laute“ für sich reklamieren. Seine Publikumsbeschimpfung war die schrille Stimme des politischen Irrsinns, der dieses Land beherrscht und mit „Corona“ in den vielleicht finalen Würgegriff genommen hat.

Wenn zwischen Künstlern und Regierenden kein Blatt Papier mehr paßt, dann haben Kunst und Kultur ihre relative Autonomie aufgegeben. Das ist hochriskant. Denn in dieser Symbiose kommt es – wie sich nun zeigt – allein auf die Regierenden an, und wenn Künstler sich von ihnen wie gewöhnliche Prostituierte behandelt sehen, muß das ein Anlaß zur Selbstkritik sein.

Abweichler wurden und werden durch den Kulturbetrieb gnadenlos abgestraft. Die Schriftsteller Jörg Bernig und Uwe Tellkamp sind wegen ihrer Kritik an der Grenzöffnung als „neurechts“ und damit fast als Unpersonen abgestempelt. Das gilt auch für Monika Maron, die in ihrem Roman „Munin oder Chaos im Kopf“ (JF 17/18) ein feines Gespür für den um sich greifenden Wahnsinn bewiesen und mit „Artur Lanz“ (JF 37/20) einen schonungslosen Bericht über das beschädigte Leben in der Bundesrepublik vorgelegt hat.

Ebenfalls zum Außenseiter geworden ist der zitierte Bernd Wagner; folgerichtig ist sein „Mao“-Buch in der „Exil“-Reihe des Buchhauses Loschwitz erschienen. Die Künstlerkollegen, die Jörg Bernigs Bestellung zum Kulturamtsleiter in Radebeul verhinderten und jetzt beschäftigungslos zu Hause sitzen, stehen vor der Erkenntnis: „Immer brav und korrekt gewesen – und nun das!“ 

Es geht etwas zu Ende. Im günstigen Fall löst „Corona“ eine Katharsis aus, die schockartig zu einer „Ästhetik des Schreckens“ führt, die ganz neue, befreite Perspektiven auf die Realität eröffnet. Es braucht Werke aus dem Geiste von Camus’ „Pest“, Houllebecqs „Unterwerfung“, Jüngers „Marmorklippen“, Raspails „Heerlager“ oder Reck-Malleczewens „Bockelson“. Weil der alte Kulturbetrieb – ob mit oder ohne Corona – kaum reformierbar erscheint, wird sich das Kulturleben verstärkt im Samisdat abspielen.