© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 10/21 / 05. März 2021

Jedes Übermaß stumpft ab
Entmündigung: Ein Essay zur Krise als politische Endlosschleife
Tilmann Wiesner

Die Rede von der Krise ist ein alter Hut der politischen Rhetorik. Bei den antiken Griechen ist die Krisis der Wendepunkt, an dem eine gefährliche Entwicklung gipfelt und zur Entscheidung drängt, vergleichbar dem höchsten Fieberpunkt eines Kranken, bei dem sich entscheidet, ob er überlebt oder verstirbt. Unter Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) ist sie zu einer Legitimationsvokabel des Regierungsapparats avanciert. Der begriffliche Aufstieg zur politischen Leitvokabel korrespondiert mit dem amorphen Führungsstil Merkels. Sie handelt nur, wenn ihr der Applaus der Meinungsmacher gewiß ist. Und die sind Mittäter des permanenten Krisenmodus, weil sie die mediale Erregungskurve aus geschäftlichen Gründen hoch halten: 2008 Finanzkrise, 2010 Eurokrise, 2011 Fukushima-Krise, 2015 Asylkrise, 2020/21 Corona-Krise und – von Ewigkeit zu Ewigkeit – die Klimakrise.

Merkels Kanzlerschaft ist krisengetrieben: Schnell hat sie begriffen, daß Krisen Stunden der Exekutive sind, weil sie das Wahlvolk zwingen, sich hinter der Regierung gegen den gemeinsamen Feind zu sammeln – seien es US-amerikanische Finanzderivate in den Bilanzen deutscher Landesbanken oder Coronaviren in schlecht geschirmten Altenheimen.

Krisen appellieren frei nach Peter Sloterdijk im absoluten Imperativ „Du mußt dein Leben ändern“ an ihre Adressaten. Nirgendwo wird dies deutlicher als bei der Drohbotschaft der Klimakrise und ihrem Orakel Greta Thunberg: „I want you to panic.“ Sie bieten den Regierenden die Chance, dem panischen Wahlvolk ökologische Änderungsprogramme zu verkaufen, CO2-Abgaben einzuführen, Verbrennungsmotoren zu verbannen und utopische Verheißungen – Great Resets und Green Deals – zu lancieren. Die Politik nutzt die Krisen, um Machtressourcen und Eingriffskompetenzen auszuweiten und unliebsame Begrenzungsregeln wie Bailout-Verbote im europäischen Vertragsrecht oder Ausreisepflichten im nationalen Asylrecht zu schleifen. Krisen versetzen die Akteure in die Lage, sich als Retter der öffentlichen Ordnung zu inszenieren, einen Machermantel überzustreifen, der die verängstigte Öffentlichkeit darüber hinwegtäuscht, daß der Kaiser nackt ist. 

Tägliche Exerzitien der Selbstisolation

Jede medial befeuerte Krise hat ihre eigene Ikonographie. Die apokalyptischen Reiter der Corona-Krise stammen aus dem Robert-Koch- und dem Paul-Ehrlich-Institut: beides Einrichtungen, deren Autorität sich auf Pionierforschern des Kaiserreichs gründet und deren ehrfurchtsvolle Namen vergessen machen, daß es sich um Bundesbehörden im Geschäftsbereich des Bundesgesundheitsministers Jens Spahn (CDU) handelt. Lothar Heinz Wieler, Klaus Cichutek, Christian Drosten und andere „Experten“ geben dem Krisenmodus in der Endlosschleife ein Gesicht. Sie verkünden das Unheil des Kommenden, mahnen die Gläubigen, nicht nachlässig zu werden im Maskenbedeckungs- und Abstandshaltungseifer, den täglichen Exerzitien der Selbstisolation. Ihr Hochamt der Krisenzelebration ist die Bundespressekonferenz, der das verängstige „Hühnervolk“ (Rolf Peter Sieferle) wie dem Fuchs im Wohnzimmerstall entgegenzittert.

Erklärungsmuster für die Krisenanfälligkeit aussterbender Kulturvölker finden sich bei einem französischen Adligen des 19. Jahrhunderts. Als er die Vereinigten Staaten bereiste, notierte Alexis de Tocqueville seine Beobachtung über den Menschenschlag in der demokratischen Gesellschaft: „Ich sehe eine unübersehbare Menge ähnlicher und gleicher Menschen, die sich rastlos um sich selbst drehen, um sich kleine und gewöhnliche Freuden zu verschaffen.“ Dieses atomistische Individuum lebe „nur in sich und für sich“, und wenn es auch eine Kleinfamilie habe, ein Vaterland habe es nicht mehr. Die Bewältigung individueller und überindividueller Lebenskrisen delegiert der demokratische Mensch an eine „gewaltige Vormundschaftsgewalt, die es allein übernimmt, ihr Behagen sicherzustellen und über ihr Schicksal zu wachen“. 

Fast visionär beschreibt Alexis de Tocqueville den Vorsorgestaat moderner Prägung, der in der Krise demonstriert, daß er „Maßnahmenstaat“ (Ernst Fraenkel) sein kann. Er übt sich in sanfter Despotie, die „absolut, ins einzelne gehend, pünktlich, vorausschauend und milde“ scheint. „Sie würde der väterlichen Gewalt gleichen, hätte sie – wie diese – die Vorbereitung der Menschen auf das Mannesalter zum Ziel; sie sucht aber, im Gegenteil, die Menschen unwiderruflich in der Kindheit festzuhalten.“ Der Staat übernimmt die gesamte Daseinsvorsorge der Kindermenschen, „sieht und sichert ihren Bedarf, erleichtert ihre Vergnügungen, führt ihre wichtigsten Geschäfte, leitet ihre gewerblichen Unternehmen, regelt ihre Erbfolge und teilt ihren Nachlaß“. Rhetorisch fragt Tocqueville: „[K]önnte er ihnen nicht vollends die Sorge, zu denken, abnehmen und die Mühe, zu leben?“

Tocquevilles Furcht vor der Entmündigung des Menschen und der Entkonditionierung freien Willens und Denkens hat in der Corona-Krise einen neuen Kulminationspunkt erreicht. Politiker haben sich einer Expertokratie ausgeliefert, die sich selbst uneins ist und der jedes Augenmaß abhanden gekommen ist. Statt Hospitalisierungsquoten und Sterbezahlen zum Maßstab von Regierungshandeln zu machen, setzen Ministerpräsidentenkonferenzen willkürlich Inzidenzzahlen auf der Grundlage zweifelhafter Tests fest, die sich nach Rückgang der Fallzahlen auch noch erstaunlich variabel erweisen. Statt vulnerable Gruppen zu schützen und Kranke zu quarantänisieren, wollen Staatsepidemiologen der ganzen Herde ans Leder und verdonnert die Kanzlerin ein ganzes Volk zum Homeoffice. 

Der Verlust allen Menschenverstandes äußert sich auch in der Krisenbekämpfung. Die vermutlich umsonst narkotisierten Volkswirtschaften Europas und Amerikas sollen nach dem Willen der politischen Kaste mit Geld aus der Notenpresse fitgespritzt werden. Damit droht die Corona-Krise Keime für eine kommende Krise des Geldsystems zu säen, so daß zu befürchten steht, wie Bill Murray in der US-amerikanischen Filmkomödie von 1993 das Murmeltier täglich zu begrüßen.

Gibt es denn keine Hoffnung, die Endlosschleife zu verlassen, aus der Krisenrhetorik auszusteigen und die fatalen Pfadabhängigkeiten und Handlungslogiken zu durchbrechen? Doch. Aus zwei Gründen: Erstens wird der Applaus der Meinungsmacher für das Corona-Regierungshandeln spärlicher. Und zweitens gerät das Krisengeschrei selbst in die Krise, denn alles Übermaß stumpft ab, entwertet sich und muß irgendwann verebben. Die Zeit heilt alle Krisen. Der Frühling kommt.