© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 10/21 / 05. März 2021

Akademische Freiheit und „woker“ Illiberalismus
Es gibt noch Hoffnung
Eric Kaufmann

Es gibt noch Hoffnung für unsere Universitäten: Die britische Regierung hat kürzlich eine bahnbrechende Gesetzgebung zur akademischen Freiheit auf den Weg gebracht, die neue Maßstäbe für politische Entscheidungsträger im gesamten Westen setzen wird. Der französische Präsident Emmanuel Macron und der kanadische Premierminister von Quebec, François Legault, haben ebenfalls entschieden betont, wie wichtig es sei, dem herrschenden progressiven Illiberalismus zu widerstehen. Dies könnte also der Beginn einer großangelegten Gegenbewegung gegen das Vordringen des „woken“ Illiberalismus in den Universitäten und darüber hinaus sein.

Denn eins ist sicher: Die Krise der akademischen Freiheit ist real. Die Ausladung von Rednern ist nur der sichtbarste Aspekt eines viel umfassenderen Problems, nämlich des Aufstiegs einer intoleranten neuen progressiven Ideologie, die ich als „left-modernism“ (Linker Modernismus) bezeichne und die gemeinhin als „Wokeness“ bekannt ist. Diese Ideologie überträgt das totalisierende Opfer-Unterdrücker-Weltbild des Sozialismus weg von der Klasse auf kulturelle Kategorien wie Rasse, Religion, Geschlecht und Sexualität.

Der „Linke Modernismus“ sakralisiert historisch benachteiligte Gruppen zu religiösen Totems. Die heiligste Kategorie ist die Rasse, gefolgt von der Sexualität und dem Geschlecht, während Körperfülle, Behinderung oder Armut weniger Beachtung geschenkt wird. Der afroamerikanische Linguist John McWhorter bezeichnet sie deshalb als „Religion des Antirassismus“. Alles, was dem sensibelsten Mitglied einer totemistischen Gruppe als beleidigend ausgelegt werden kann, ist Blasphemie und wird dementsprechend mit der Exkommunikation aus der höfischen Gesellschaft bestraft.

Die Religion hat einen Kader von oft jungen Online-Predigern ermutigt, fleißig nach jedem Anzeichen einer möglichen Überschreitung zu suchen. Überall vermuten sie Rassismus und Transphobie, oder aber erkennen den Teufel persönlich: die weiße männliche Vorherrschaft („white male supremacy“). Sie versuchen so oft wie möglich einen moralischen Aufschrei um blasphemische Äußerungen im Internet zu initiieren und ernten dafür den Beifall ihrer Glaubensbrüder. Das Endziel besteht darin, eine Person „auszulöschen“, das heißt sie aus ihrem Job zu feuern, ihren Ruf zu zerstören oder ihren Zugang zu sozialen Medien, Werbung oder sogar Zahlungsdiensten zu unterbinden. Dieses Glaubenssystem wirkt wie eine säkulare Religion, erobert den Disziplinarapparat der Universitäten und geht darüber hinaus auf Unternehmen, Teile der Medien und Regierungsbehörden über.

In meinen eigenen Untersuchungen fand ich unter den Sozial- und Geisteswissenschaftlern der amerikanischen und kanadischen Top-Universitäten ein Verhältnis von 14 zu 1 zwischen Linken und Rechten. In Großbritannien lag es bei 9 zu 1.

Ihren Ursprung hat die sogenannte „Cancel Culture“ an den Hochschulen bereits in den späten sechziger Jahren, als radikale Studentenbewegungen begannen, die akademische Freiheit an progressiven Universitäten wie der von Berkeley/Kalifornien zu beschneiden. In den achtziger Jahren verwandelte ein Zustrom linker Studenten die amerikanischen und britischen Akademien von einer Institution, in der die Konservativen den Linken zahlenmäßig 1,5 zu 1 unterlegen waren, in einen Ort, an dem die Linken einen Zwei-zu-eins-Vorteil hatten. Mittlerweile liegt das Verhältnis bei 6 zu 1. In den Sozial- und Geisteswissenschaften der Top-Universitäten in den USA – mit Ausnahme der Wirtschaftswissenschaften – liegt das Verhältnis jetzt bei über 10 zu 1. In meinen eigenen Untersuchungen fand ich unter den Sozial- und Geisteswissenschaftlern der amerikanischen und kanadischen Top-Universitäten ein Verhältnis von 14 zu 1 zwischen Linken und Rechten. In Großbritannien lag es bei 9 zu 1.

Die ersten institutionellen Einschränkungen der akademischen Freiheit waren sogenannte „Speech Codes“ (Sprachregeln), die in den späten 1980er Jahren an US-Universitäten eingeführt wurden. Diese maßregeln die freie Rede über das hinaus, was in der amerikanischen Verfassung festgelegt ist. Fast 90 Prozent von ihnen sind verfassungswidrig und wurden wiederholt von den Gerichten gekippt. Dennoch halten sie sich an den Hochschulen hartnäckig, weil die Regulierungsbehörden die Verfasser nicht daran hindern, neue zu schreiben.

Ebenso kam in den späten 1980er Jahren auch der Begriff „Politische Korrektheit“ (PC) hinzu, ein früheres Wort für links-modernistische Sprachbeschränkungen. Diese basieren auf der Überwachung von Sprache, die angeblich die Empfindlichkeiten der geheiligten Rasse, des Geschlechts und sexueller Minderheiten verletzt.

PC führte zu Episoden von „Wokeness“ avant la lettre sowie zu einer moralischen Panik in Sachen Rassismus und Sexismus, die beispielsweise 1995 die politikwissenschaftliche Abteilung der University of British Columbia in Kanada lahmlegte. In den späten 2010er Jahren trugen das Wachstum der sozialen Medien und der Aufstieg von klickgesteuerten, parteiischen Online-Seiten wie „Buzzfeed“ und „Breitbart“ dazu bei, die Zahl der „Wokeness“-Kreuzzüge zu vervielfachen, was ab 2015 viele amerikanische Universitäten in Aufruhr versetzte und Matthew Yglesias’ Begriff des „Großen Erwachens“ („Great Awokening“) hervorrief.

Heutzutage sind Universitäten das Epizentrum der „Woke“-Religion. Sie sind der Ort, wo mittlerweile die absurdesten Redeeinschränkungen möglich sind. Unklar ist jedoch, wieviel Unterstützung dies innerhalb der Professorenschaft hat. Sind es nur ein paar Aktivisten, oder gibt es eine breite Unterstützung für diese Bewegung unter den Wissenschaftlern?

Mein neuer Bericht für das „Center for the Study of Partisanship and Ideology“ (CSPI) mit dem Titel „Akademische Freiheit in der Krise“ befaßt sich mit genau dieser Frage. Gibt es Unterstützung für die Entlassung von Akademikern (siehe auch Seite 12 dieser Ausgabe), die politisch „inkorrekte“ Ergebnisse publizieren, wie beispielsweise die hypothetische Feststellung, daß mehr Minderheiten in einer Organisation die Leistung senken oder daß das britische Empire mehr Nutzen als Schaden gebracht hat? Bemerkenswert ist, daß nur etwa einer von zehn Akademikern in den USA, Großbritannien und Kanada die Entlassung eines solchen Wissenschaftlers unterstützt. Auf der anderen Seite unterstützten Akademiker unter 35 Jahren doppelt so häufig eine Entlassungskampagne. Doktoranden waren gleich dreimal so häufig dafür.

Darüber hinaus war etwa die Hälfte der Dozenten unsicher, ob sie gegen eine solche Entlassung des betreffenden Forschers sind. Die Forderung nach Rassen- und Geschlechterquoten auf Literaturlisten sowie Politische Korrektheit im allgemeinen erhalten eine weitaus größere Unterstützung, was darauf hindeutet, daß viele Akademiker zwischen ihrer Unterstützung für „woke“ Ziele und ihrer Opposition gegen illiberale „woke“ Methoden hin und her gerissen sind. Die Krux dabei: Genau diese Unentschlossenheit ermöglicht ein toleranteres Umfeld für „woken“ Aktivismus.

Die Demonstration rechtlicher Standards, wie sie nun der britische Ansatz verfolgt, könnte wiederum kulturelle Normen verändern und dazu beitragen, unsere verfallene „Kultur der freien Meinungsäußerung“ zu neuem Leben zu erwecken. 

Zudem ist eine breite Minderheit von Akademikern bereit, Konservative zu diskriminieren: 40 Prozent der amerikanischen Wissenschaftler würden einen bekannten Trump-Unterstützer nicht einstellen, und 32 Prozent der britischen Akademiker würden einen bekannten Brexit-Supporter nicht einstellen. Neben der „Cancel Culture“ führt dies zu einem „chilling effect“, also einer Art Selbstzensur, durch die Konservative, aber auch genderkritische Feministinnen im verborgenen bleiben. Über 90 Prozent der Trump unterstützenden Akademiker würden ihre Ansichten nicht mit Kollegen teilen, und 70 Prozent der amerikanischen Konservativen sagen, daß sie sich bei ihrer Arbeit selbst zensieren.

Diese Selbstzensur, mehr noch als das „Deplatforming“, ist der Kern der Bedrohung für unsere freien Gesellschaften. Die Gesetzgebung der britischen Regierung zur akademischen Freiheit zielt darauf ab, die Universitäten proaktiv zu regulieren und sicherzustellen, daß sie der Freiheit Vorrang vor „emotionaler Sicherheit“ einräumt sowie dem Schutz vor Rufschädigung gegenüber anderen institutionellen Zielen. Beschuldigte können Entscheidungen der Universität, die ihre akademische Freiheit beeinträchtigen, bei einem staatlichen Ombudsmann außerhalb ihrer Universität anfechten.

Anstatt darauf zu warten, daß die zu Unrecht Beschuldigten ihre Universitäten verklagen, was Wissenschaftler vorsichtshalber vermeiden, indem sie ihre Arbeit zensieren, bietet der proaktive Ansatz der Regierung einen besseren Schutz vor abschreckenden Auswirkungen. Dieser gesetzliche Rahmen nutzt Bußgelder und politische Richtlinien, um zu verhindern, daß Universitäten die Freiheitsrechte von Mitarbeitern und Studenten überhaupt verletzen. Eine explizite Erwähnung von politischer Diskriminierung ist ebenfalls Teil der Vorschläge und hilft, eine andere wichtige Quelle der Selbstzensur einzudämmen.

Wie der Report beweist, meiden viele Konservative aus den Sozial- und Geisteswissenschaften die akademische Welt, weil sie glauben, daß ihnen dort das Leben schwergemacht werden würde. Sollte der Ansatz der britischen Regierung das Meinungsklima innerhalb der Universität verbessern, könnten Konservative und andere politische Minderheiten weniger Bedenken haben, in die Wissenschaft einzutreten, was dazu beitragen würde, endlich wieder die geringe Meinungsvielfalt des Berufsstandes zu erhöhen.

Das Vorgehen könnte natürlich auch helfen, politische Instrumente zu etablieren, die auch in anderen Teilen des öffentlichen Sektors eingeführt werden könnten. Diese Demonstrationen rechtlicher Standards könnten wiederum kulturelle Normen verändern und dazu beitragen, unsere verfallene „Kultur der freien Meinungsäußerung“ zu neuem Leben zu erwecken. Denn eines ist klar: Ohne diese liberale Kultur werden auch Gesetze nicht verhindern, daß wir letztendlich unsere offene Gesellschaft verlieren.







Prof. Dr. Eric Kaufmann, Jahrgang 1970, ist Politikwissenschaftler am Birkbeck College an der Universität von London. In seiner empirischen Forschung spezialisierte sich der Kanadier vor allem auf die Felder Nationalismus, Populismus, politische Demographie und die ideologische Entwicklung der kulturellen Linken. Der Politologe ist Vorstandsmitglied des „Centers for the Study of Partisanship and Ideology (CSPI)“, welches am 1. März seine Studie zur Akademischen Freiheit veröffentlicht hat. Kaufmann ist Herausgeber der Zeitschrift Nations & Nationalism und hat unter anderem für die New York Times, Foreign Affairs und den New Statesman geschrieben.

Foto: Intolerante Akademiker protestieren: Der Ausdruck „woke“ (erwacht, wach) stammt ursprünglich aus der schwarzen US-Bürgerrechtsbewegung und bezeichnete ein erhöhtes Bewußtsein für Ausgrenzung und Unterdrückung. Der linke Modernismus („Wokeness“) überträgt das totalisierende Opfer-Unterdrücker-Weltbild des Sozialismus weg von der Klasse auf kulturelle Kategorien wie Rasse, Religion, Geschlecht und Sexualität.