© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 10/21 / 05. März 2021

Hauptstadt der Querdenker
Stuttgart, das Mekka der Anthroposophen
Dirk Glaser

Die ersten Massenproteste gegen die als „Corona-Diktatur“ bekämpfte Gesundheitspolitik der Bundesregierung wurden im letzten Sommer von Stuttgart aus organisiert. Dort hatte zuvor der Unternehmer Michael Ballweg die Bürgerinitiative „Querdenken 711“ ins Leben gerufen, die sich rasch bundesweit ausbreitete. 

Als Ende 2020 dann der Basler Soziologe Oliver Nachtwey das Ergebnis einer Netz-Befragung von 1.152 Aktivisten vorlegte, der zufolge sich überraschende 41 Prozent dieser „Querdenker“ aus dem links-grünen Spektrum rekrutierten, ergab sich für viele Beobachter ein klarer Zusammenhang zwischen der historisch gewachsenen Stuttgarter „Nonkonformisten“-Kultur und dem rebellischen Aufbegehren gegen „Maske und Lockdown“. 

Abwegig findet der Düsseldorfer Bildungsforscher Heiner Barz solche Herleitungen nicht (Aus Politik und Zeitgeschichte, 5-6/2021). Stuttgart sei seit über hundert Jahren ein Anthroposophen-Mekka und das „Epizentrum der Waldorf-Pädagogik“. Schon für den Bundespräsidenten Theodor Heuss, einen Schwaben, war der enorme Widerhall kein Zufall, den Rudolf Steiner gerade hier fand, als der Spiritus rector der Anthroposophie 1919 auf der Uhlandshöhe die erste Waldorfschule eröffnete. Stecke doch jener „Sinn für das Spekulative im schwäbischen Volkstum“, der stets über das schlechte Bestehende hinaustreibt. Auch für Barz fand der vom Zigarettenunternehmer Emil Molt finanziell kräftig unterstützte „Universalquerdenker“ Steiner im von „pietistischer Werkfrömmigkeit“ geprägten Stuttgarter Raum die ideale Keimzelle für sein heute weltumspannendes Lebensreform-Imperium. 

Trotzdem befriedigt Barz der Rekurs auf anthroposophische Prägungen nicht, die heute vor allem im Stuttgarter Osten noch an jeder Straßenecke sichtbar sind. Wichtiger sei die Protestszene, die sich seit 2010 im „Kulturkonflikt“ um das von der CDU-Regierung  eingefädelte, seit 2011 von der grünen Landesregierung fortgesetzte „Megaprojekt Stuttgart 21“ formte. Ausgerechnet im „Mutterland der direkten Demokratie“ wollen „die da oben“ ein „mit Scheinargumenten legitimiertes Symbolprojekt brachial durchsetzen“. Doch stattdessen habe „staatliche Willkür“ im Dienst des „ökologischen Irrsinns“ dieses Bahnhofsbaus anthroposophische Freidenker in „Wut- und Mut-Bürger“ verwandelt. Deren Widerstandsgeist lasse sich im Zeichen der Corona-Pandemie nun wieder leicht mobilisieren.