© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 10/21 / 05. März 2021

Brüche und Kontinuitäten
Der Historiker Sönke Neitzel über das deutsche Soldatentum von Sedan bis Kunduz
Jürgen W. Schmidt

In einschlägigen Fernseh-Geschichtsdokumentationen ist der gebürtige Hamburger Historiker Sönkel Neitzel  ständig präsent. 1994 mit einer Arbeit über die deutsche Luftkriegsführung im Zweiten Weltkrieg über dem Atlantik und der Nordsee promoviert, ist Neitzel der Erforschung der deutschen Militärgeschichte treu geblieben. Aktuell hat er einen Lehrauftrag für Militärgeschichte/Kulturgeschichte der Gewalt an der Universität Potsdam inne. Sein jüngstes Buch befaßt sich mit der deutschen Militärgeschichte vom Kaiserreich bis zur Gegenwart, und er widmet dabei der von Zivilisten und ungedienten Politikern häufig mißverstandenen soldatischen Mentalität (von ihm als „Tribal culture“ bezeichnet) erhebliche Aufmerksamkeit.

Kräftige Formulierungen sind Neitzels Sache nicht, doch kommt er in seinem Buch häufig zu Erkenntnissen, die Bundeskanzlerin Merkel als „nicht hilfreich“ bezeichnen würde. Solche Erkenntnisse finden sich im gesamten Buch, werden aber um so interessanter, je mehr sich Sönke Neitzel der Gegenwart nähert und dabei die Kampfeinsätze der kaputtgesparten und heruntergewirtschafteten Bundeswehr einer scharfen, unbestechlichen Kritik unterwirft. Kleinere Unstimmigkeiten, wenn er zum Beispiel Soldatenspinde hartnäckig als „Spinte“ bezeichnet oder daran zu glauben vorgibt, daß den NVA-Offizieren in der „Armee der Einheit“ nach 1990 eine reale Chance geboten wurde, sich in die Bundeswehr einzugliedern, trüben nur unwesentlich das Bild.

Originell ist etwa der Vergleich mit einem Sportler, mit dem Neitzel die Kampfleistungen der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg beschreibt. Für ihn ist die Wehrmacht angesichts ihrer Blitzkriegsleistungen von 1939/40 ein ausgesprochener „Sprinter“, der im darauffolgenden „Marathonlauf“ der Jahre 1941 bis 1945 zunehmend versagte. Die uneffektive Kampfführung der Wehrmacht im Westen (und natürlich auch im Osten) ab 1943 inklusive der rapide zunehmenden Verluste erklärt Neitzel mit einer ungerechtfertigten Unterschätzung der Artillerie seitens der Wehrmachtführung, welche erstaunlich wirkt im Vergleich zur wichtigen Rolle, welche die deutsche Artillerie im Ersten Weltkrieg spielte. 

Hierbei hat er gewiß nicht unrecht und seine Beweisführung ist überzeugend. Unaufgeregt und sachlich nähert sich Neitzel dem heißen Eisen der „Kriegsverbrechen der Wehrmacht“. Er versucht deren Umfang und vor allem deren geistige und soziale Ursachen zu ergründen und scheut dabei nicht den direkten Vergleich mit den deutschen Kriegsgegnern.

Geradezu spannend wird sein Buch hingegen, wenn sich Neitzel mit der deutschen Militärgeschichte nach 1990 befaßt und die NVA dabei als „Sonderfall der deutschen Militärgeschichte“ betrachtet, der kaum nachhaltige Spuren in der Bundeswehr hinterließ. Wesentlich fühlbarer sind dagegen für Neitzel die „Leistungen“ der mit Volker Rühe beginnenden, fast durchweg militärisch ungedienten Bundesverteidigungsminister ab 1991, die eine „Vereinigungsdividende“ einzuziehen suchten und dabei die Bundeswehr derart zusammenkürzten, daß heute kein einziger der wenigen noch bestehenden deutschen Großverbände noch als solcher kampffähig ist. Das Trauerspiel um Flugzeuge und Hubschrauber, welche nicht mehr fliegen können und die Schiffe, welche nicht mehr schwimmen wollen, ist schließlich allgemein bekannt. 

Berlin fehlte in Afghanistan „der Wille zum Sieg“

Wohl nicht ohne Hintergedanken hat Neitzel im Anhang seines Buches eine Grafik beigefügt, die zeigt, wie extrem der Anteil der militärisch „gedienten“ Bundestagsabgeordneten in den letzten drei Jahrzehnten abgenommen hat. Ebenso entsetzt das beigefügte, sehr harmlose Foto aus dem Traditionsraum jenes Panzergrenadierbataillons der Bundeswehr, welches seinerzeit die entsetzte Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen bewog, von einem „Haltungsproblem in der Bundeswehr“ zu sprechen. Danach wurden die Traditionen der Bundeswehr derart kräftig entrümpelt, daß man statt Rommel- und Heusinger-Kasernen künftig „Mutter- Teresa-Kasernen“ erwarten mußte. 

Bezüglich der aktuellen Erwägungen zur KSK-Auflösung ist erwähnenswert, daß die Fallschirmjäger der Bundeswehr schon vor Jahrzehnten gleichermaßen scheel von der bundesdeutschen Politik betrachtet wurden und es gar interne Studien zur Auflösung der Fallschirmjägertruppe gab. Insgesamt gilt für die Bundeswehr heute, was ein von Neitzel anonym zitierter Bundeswehroffizier in Kunduz in sein Tagebuch schrieb: „Offensichtlich treibt alle die Sorge vor irgendwelchen Schlagzeilen in Deutschland um. So kann man keinen Krieg führen, bei allem Verständnis für die politischen Aspekte.“ Die Bundeswehr wurde folglich während ihres Afghanistaneinsatzes hartnäckig am politischen Gängelband gehalten, und unter den Offizieren vor Ort bildete sich schnell die Meinung heraus, daß in Berlin „der Wille zum Sieg fehle“. Man wollte Verluste unter den eigenen Soldaten – und noch hartnäckiger unter den Afghanen – vermeiden und nicht etwa die Taliban besiegen. Die Bundeswehr machte sich zum Gespött unter den Bündnispartnern. 

Als nach dem militärisch erfolgreichen Bombereinsatz gegen die mitternächtlichen Tankwagenplünderer von Kunduz bei den Bundeswehrsoldaten textile Uniformaufnäher mit den Worten „Du sollst nicht stehlen“ auftauchten, wurde deren Verbreitung ebenso hartnäckig verfolgt wie seinerzeit in der DDR die Aufnäher mit der Losung „Schwerter zu Pflugscharen“. So setzte die bundesdeutsche Politik ihren Primat der Politik durch und verprellte wieder einmal die eigenen Soldaten. Resultat ist ein hoher Anteil von Offizieren a.D. sowie aktiven Soldaten unter den AfD-Politikern und -Wählern!    

Neitzels Buch sollte Pflichtlektüre für jeden sich als Wehrpolitiker verstehenden Bundestagsabgeordneten sein und von Militärs in Deutschland sehr aufmerksam gelesen werden.

Sönke Neitzel: Deutsche Krieger. Vom Kaiserreich zur Berliner Republik – eine Militärgeschichte. Propyläen-Verlag, Berlin 2020, gebunden, 816 Seiten, Abbildungen, 35 Euro