© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 11/21 / 12. März 2021

Widerworte der Woche
Besser, aber noch nicht gut
Christian Vollradt

Der Politiker als solcher hat viele Freßfeinde, die er fürchtet. Die bekanntesten: der Wähler, der Parteifreund und – der grausamste: die Realität. Kein Wunder, daß das geübte Fluchttier aus purem Überlebensinstinkt vor ihr am schnellsten Reißaus nimmt. Beispielsweise ins geschützte Reservat namens Phrasenien. Manchmal jedoch ist es unausweichlich, dem Widersacher ins Auge zu schauen. So besuchte Berlins Innensenator Andreas Geisel (SPD) jüngst den berüchtigten Rauschmittelumschlagplatz Görlitzer Park, um sich – begleitet von Journalisten – öffentlichkeitswirksam von den Kontrollen seiner Polizei dort zu überzeugen. Wie drapiert filzten dann auch Beamte einige Verdächtige, just als der oberste Ordnungshüter vorbeiflanierte. Die Situation dort sei „deutlich besser geworden“, resümierte Geisel in die Mikrofone, als ein Bewohner des Kiezes widersprach: „Gar nix is’ besser geworden“, so der graumelierte Herr, dessen Akzent den typischen Kreuzberger (also mit offenbar türkischen Wurzeln) verriet. „Gut, daß ihr kommt und dann redet und dann nach Hause geht. Aber ich wohne hier ...“, verdeutlichte er aufgebracht dem Senator gewisse Pers­pektivunterschiede. Kleinlaut mußte Geisel einräumen, die Situation sei „in der Tat noch nicht gut“. Angesichts von „260 Dealern und anderen Straftätern“ (Polizeibilanz), mehrheitlich ohne „dauerhaftes Bleiberecht“, ist das fast schon realistisch.