© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 11/21 / 12. März 2021

Das fragwürdige Virus
Ein Jahr Corona-Pandemie und kein Ende: Sind die Schweden die besseren Deutschen, wem nützt die Impfung, was kostet der Lockdown und was soll der digitale Impfpaß?
Mathias Pellack / Christian Rudolf

Am 11. März 2020 – die Medien meldeten weltweit 4.000 „Corona-Tote“ und in Deutschland ein halbes Dutzend – erklärte die Weltgesundheitsorganisation das Virusgeschehen zur weltweiten Pandemie. In der Folge betrat der vormundschaftliche Staat mit Macht die Bühne. Seitdem regieren Angst, Konfusion und Konzeptlosigkeit. 

Obgleich der mehrfach verlängerte Ausnahmezustand der Regierung weitreichende Befugnisse an die Hand gibt, sie demnach durchregieren könnte, bleibt Deutschland mit den Impfungen hinter anderen Ländern weit zurück. Unklar ist weiterhin, wann und unter welchen Kriterien der Lockdown beendet wird. Eine Teststrategie ist nach einem Jahr Pandemie erst jetzt in der Entwicklung.

Normalität ist derweil noch lange nicht in Sicht. Zehntausende Menschen sind gestorben, Zehntausende am eingeschränkten Leben verzweifelt. Zehntausende Gewerbetreibende werden pleite gehen. Hunderttausende Schüler und Studenten erhalten Bildung minderer Qualität.

In der noch andauernden Corona-Krise wollen wir eine Reihe aktueller Fragen medizinischer, gesundheitspolitischer und wirtschaftlicher Art beantworten – nüchtern mit den Tatsachen, zurückhaltend bewertet.





Liegen auf den Covid-Stationen überwiegend Patienten mit Migrationshintergrund?

Das läßt sich schwer belegen. Die Daten werden nicht zentral gesammelt. Stichpunktartige JF-Recherchen ergaben: In einer Klinik in Mönchengladbach verhält es sich so, in einer Klinik in Rostock dagegen nicht. Der Chef der Lungenklinik Moers, Thomas Voshaar, gab laut Bild in einer internen Konferenz an: „Nach meiner Erhebung hatten immer über 90 Prozent der intubierten, schwerstkranken Patienten einen Migrationshintergrund.“ Voshaar gab an, mehrere Kliniken befragt zu haben. RKI-Chef Lothar Wieler sagte, ihm sei diese Problematik bekannt. Er gehe von deutlich über 50 Prozent an Migranten aus. Das Thema sei „aber ein Tabu. Ich habe versucht, auf bestimmte Menschen zuzugehen. Wir müssen über Imame auf diese Religionsgruppe eingehen. Das Ganze hat für Berlin riesige Auswirkungen. Das ist ein echtes Problem.“ Lungenarzt Voshaar ergänzte, man habe sich krankenhausintern darauf geeinigt, „daß wir solche Kranke als ‘Patienten mit Kommunikationsbarriere’ bezeichnen wollen. Die scheinen wir nicht zu erreichen.“ Diese Aussagen deuten darauf hin, daß die geltenden Abstands- und Hygieneregeln nicht bis zu diesem Personenkreis durchdringen. (mp)





Ist der deutsche Weg besser als der schwedische?       

Deutsche Medien meldeten Mitte Dezember, der „schwedische Sonderweg“ sei gescheitert. Denn die Regierung in Stockholm war von ihrem Weg, nur Empfehlungen auszusprechen, abgerückt und hatte gesetzliche Einschränkungen erlassen. Zum 24. November 2020 wurden öffentliche Veranstaltungen mit mehr als acht Personen untersagt. Im Januar legte die Regierung nach und beschloß Regeln, die Gedränge vermeiden sollten. Fitneßstudios, Sportanlagen, Schwimmbäder, Einkaufspassagen müssen seither eine maximal zulässige gleichzeitige Besucherzahl berechnen. Aber: Es gibt keine Ausgangsverbote, keine generellen Ladenschließungen und erst recht kein Eingreifen des Staates in private Haushalte. Schweden hat derweil genauso viele Sars-Cov-2-Infektionen pro 100.000 Einwohner wie das Vereinigte Königreich, Spanien, die Schweiz, Belgien oder die Niederlande, deren Bürger allesamt weit härtere Eingriffe erdulden mußten und müssen. Auch die Todesfälle auf 100.000 Einwohner bewegen sich in Deutschland, der Schweiz, Österreich und Schweden während des Winters auf dem gleichen Niveau. (mp)





Warum wirkt der Lockdown je nach Bundesland so unterschiedlich? 

Alle Bundesländer gingen am 2. November in den „Lockdown light“. Zu erwarten wäre daher ein zeitgleiches Abflachen der Kurve. Doch die Zahl der Covid-Patienten stieg beispielsweise in den Krankenhäusern Schleswig-Holsteins einen ganzen Monat länger an als in denen Sachsens. Ein wichtiger Grund scheint das wellenhafte Auftreten von Neuansteckungen zu sein. Bei den Influenza-Pandemien 1957 und 1968 habe sich Ähnliches beobachten lassen, sagt Klaus Stöhr, der das Globale Influenza-Programm leitete und Sars-Forschungskoordinator der WHO war: „Ausbruchswellen, die eine Länge von zehn bis zwölf Wochen haben und dann zurückgehen.“ Diese könnten mit eingeschränkter Mobilität durch Lockdowns zusammenhängen wie auch mit einer regional unterschiedlich fortschreitenden Immunisierung der Bevölkerung durch natürliche Herdenimmunität, weil Personen sich bereits einmal angesteckt hätten. „Wie bei allen Naturereignissen“, so Fachmann Stöhr, „gibt es auch bei einer Pandemie Phänomene, zu deren Erklärung man nur spekulieren kann.“ (mp)





Ist Ansteckung durch Symptomlose möglich? 

Hier muß unterschieden werden zwischen Übertragung von solchen Personen, die nur noch keine Symptome entwickelt haben (präsymptomatische), und denen, die keine Symptome entwickeln werden (asymptomatische). Der Anteil derer, bei denen die Infektion symptomlos verläuft, liegt neuesten Studien zufolge bei niedrigen 17 bis 30 Prozent – ein weitaus geringerer Wert als vor einem halben Jahr konstatiert. Diese Personen können positiv getestet werden, sind demzufolge infiziert, sie erkranken aber nicht. Studien legen hier nahe, daß diese Gruppe in der Regel zu wenig Viruslast abgibt, um andere anzustecken. Die Symptomlosen, die erkranken werden, können für zwei bis drei Tage jedoch sehr wohl relevante Mengen des Virus in Umlauf bringen (Bohmer MM, Eurosurveillance, 2020), ohne daß sie sich bereits krank fühlen. Die Zeit zwischen Ansteckung und Ausbruch bei Covid-19 beträgt durchschnittlich fünf bis sechs Tage. (mp)





Was kostet uns der Lockdown?

Wer soll das bezahlen? Pro Woche rund 3,5 Milliarden Euro des Bruttoinlandsprodukts (BIP) oder vier Zehntel des Quartals-BIP dürfte der Lockdown kosten, schätzte die Forschungseinrichtung der Bundesagentur für Arbeit Mitte Dezember. Mit unvorstellbaren 1,3 Billionen Euro Mehrausgaben insgesamt wird die mit dem Virus zusammenhängende Krise bei Bund und Ländern allein 2020 zu Buche schlagen, rechnete Ende des Jahres das Finanzministerium vor: darunter das Konjunkturpaket, die Garantien von Bund und Ländern von rund 826,5 Milliarden Euro, dazu gute 25 Milliarden mehr für Arbeitslosen- und Kurzarbeitergeld sowie Steuereinnahmeausfälle von minus 4,6 Prozent in den (zunächst) ersten drei Quartalen. Im Februar 2021 waren nach Schätzungen des Ifo-Instituts 8,5 Prozent der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in die Kurzarbeit gezwungen – das sind 2,8 Millionen Menschen (zum Vergleich 2019: 145.000 Kurzarbeiter.) 40.000 Schulen und 58.000 Kitas waren vier Monate zu. Vor allem die Schulschließungen führten zu „enormen wirtschaftlichen Schäden“ für die einzelnen Schüler wie für die gesamte Volkswirtschaft, warnt der Bildungsökonom des Ifo-Instituts, Ludger Wößmann. Im Schnitt müsse man von einem Verlust beim Lebenseinkommen der Schüler von 4,5 Prozent ausgehen, wegen des Zusammenhangs von Bildung und Einkommen. Finanzminister Olaf Scholz (SPD) plante bisher mit neuen Schulden im Bundeshaushalt von 180 Milliarden Euro. Vergangene Woche räumte er ein, es werde „notwendig, das mit einem Nachtragshaushalt zu begleiten“. Die angesetzten 50 Milliarden werden nicht reichen. (ru)





Vor was genau schützen die Impfungen?

Auch nach einem Jahr Covid-19 ist bei den Impfstoffen noch nicht der Stein der Weisen gefunden. Keiner der drei verschiedenen Anti-Corona-Impfstofftypen (mRNA, Impfstoffe mit Vektorviren, Tot­impfstoffe mit Virusproteinen) kann mit absoluter Sicherheit eine Erkrankung an Covid verhindern. Die in Deutschland zugelassenen Impfungen schützen aber zu etwa 90 Prozent. Der heiß debattierte Impfstoff des britischen Herstellers Astrazeneca wurde nun von der Ständigen Impfkommission (Stiko) auch für Ältere über 65 Jahren zugelassen. Ob eine Impfung über den Eigenschutz hinaus auch verhindert, daß man das Virus gegebenenfalls weiterverbreitet, ist derzeit noch nicht bestätigt, wenngleich erste Studien aus Israel hoffen lassen. Demzufolge sei die Verbreitungswahrscheinlichkeit beim Biontech-Wirkstoff um fast 90 Prozent verringert. Es ist dabei aber letztlich eine individuelle Entscheidung, ob sich junge, kerngesunde, immunstarke Menschen gegen Sars-CoV-2 impfen lassen sollten, wenn ihnen meist „nur“ ein milder Krankeitsverlauf droht. (mp)





Was, wenn sich nicht jeder impfen lassen will?

Sich nicht impfen lassen zu wollen, ist eines jeden gutes Recht, zumal wenn es um Substanzen geht, die im Schnellverfahren notzugelassen wurden. An Minderjährige dürfen die meisten Corona-Impfstoffe daher gar nicht verabreicht werden. Aber in dieser Pandemie haben wir vieles an Eingriffen erlebt, das wir vorher nicht für möglich hielten, vor allem, daß die Grundrechtsartikel auch leicht mal suspendiert werden können. Zudem: Gesetze können geändert werden. Weit eleganter als Zwang, aber ebenso effektiv wirkt eine indirekte Impflicht. Zu groß ist die Verlockung, riesige Datensätze zusammenzuführen und Kontrolle auszuüben. Die US-Firma IBM entwickelt für die Bundesregierung sowohl einen digitalen Impfpaß wie auch eine Impfnachweis-App, über die der Zugang zu Läden, Restaurants, Hotels, Flughäfen und anderen belebten Orten kontrolliert wird. Wird daraus dann eine lebenslang geführte digitale Gesundheitsdokumentation (electronic health record) auf der Basis individueller biometrischer Identifikatoren, verknüpft mit dem Impfstatus und jederzeit abrufbar? Das Projekt ID2020 will zusammen mit Regierungen und privaten Investoren eine künftige transnationale digitale Identität herstellen. (ru)





Wer geht gestärkt aus der Krise hervor? 

Dax und Dow Jones sackten im Frühjahr 2020 um ein Drittel ab. Die Angst vor dem Coronavirus und den damit verbundenen Folgen brachte den Leitindizes heftige Dämpfer. Doch nicht alle Wirtschaftszweige leiden gleich unter der Pandemie und der sie begleitenden Politik. Der Wertverlust beim weltweit agierenden Onlineversandhändler Amazon hielt sich im Rahmen der normalen Kursschwankungen, Amazon konnte seinen Börsenwert bis Juli sogar fast verdoppeln, während die Indizes bis Januar respektive November brauchten, um sich auf Vorkrisenniveau zu erholen. Eine zweite Gruppe von Profiteuren sind natürlich die Impfstoffentwickler und -hersteller wie Biontech, das erst im Oktober 2019 an die Börse ging. Seit der WHO-Erklärung von Sars-CoV-2 zur Pandemie im März konnte das Mainzer Unternehmen seinen Börsenwert vervierfachen. Moderna konnte den Wert versechsfachen. Auch Zulieferer für Laborgeräte und Utensilien wie Sartorius profitieren stark. Das Göttinger Unternehmen will in den kommenden Jahren Tausende neue Arbeitsplätze schaffen. Weitere Krisenprofiteure sind Firmen, die auf Datenspeicherung und Verarbeitung spezialisiert sind. Google, Microsoft und auch Amazon sind hier mit von der Partie. Aber auch Unternehmen wie Servicenow oder Salesforce arbeiten schon heute mit Regierungen und Behörden weltweit zusammen. Israel, Großbritannien und die USA nutzen ihre Dienste, um etwa Corona-Kontakte nachzuverfolgen oder Impfungen zu planen. (mp)