© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 11/21 / 12. März 2021

Auf Ausgrenzung nicht verzichten
Identitätspolitik: Eine Replik auf Wolfgang Thierse, den auf halbem Weg der Mut verlassen hat
Thorsten Hinz

Mit seiner Kritik an der Identitätspolitik diverser Minderheiten hat SPD-Emeritus und Bundestagspräsident a.D. Wolfgang Thierse heftige Reaktionen zunächst aus der Queer- oder LGBT (Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender)-Szene, dann von höchster Stelle seiner Partei und Teilen der Medien auf sich gezogen. Doch auch Unterstützer haben sich zu Wort gemeldet mit dem Tenor: Endlich sagt’s mal einer! Was also hat Thierse Brisantes gesagt?

Der Text, den er am 22. Februar 2021 in der FAZ veröffentlicht hat, beginnt syntaktisch unbeholfen, aber verheißungsvoll: „Wurde Zugehörigkeit früher über Konfession und später über Ideologie signalisiert, so hat diese Funktion heute der Begriff Identität übernommen. Das ruft zugleich in Erinnerung, daß ‘Konfession’ und ‘Ideologie’ in der Vergangenheit immer wieder zu heftigen, gar blutigen Konflikten geführt haben. Sollte sich Geschichte unter anderem Leitbegriff etwa wiederholen?“ 

Die „(e)thnische, kulturelle, religiös-weltanschauliche Pluralität“ der Gesellschaft nehme zu, damit sei die „Fiktion einer homogenen Nationalkultur“ nach dem Bilde Johann Gottfried Herders obsolet. Für ein geordnetes Zusammenleben bedürfe es dennoch „grundlegender Gemeinsamkeiten“. Dazu gehörten „selbstverständlich die gemeinsame Sprache“ – soviel Homogenität muß also sein! –, „natürlich auch die Anerkennung von Recht und Gesetz“ sowie verbindliche „Vorstellungen von Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität, Menschenwürde, Toleranz, also in den unsere liberale, offene Gesellschaft tragenden Werten und ebenso auch in den geschichtlich geprägten kulturellen Normen“.

Was Thierse als „natürlich“ und „selbstverständlich“ voraussetzt, ist das Ergebnis eines langen Zivilisationsprozesses, der zu einem relativen und stets fragilen Konsens führte. Thomas Hobbes hat das Ideal in den Begriff und das Bild des Staats-Leviathans gefaßt, der in der einen Hand das Schwert, in der anderen den Bischofsstab hält und seine Arme schützend über das Gemeinwesen breitet. Das Schwert symbolisiert die direkten Gewalten, die staatlichen Machtorgane, das Militär usw., der Bischofsstab die indirekten, die die geistigen, religiösen, künstlerischen, diskursiven Kräfte. Sie alle müssen, damit Frieden sein kann, sich dem Gesetz unterordnen, sich in Einsicht, Ausgleich, Rücksichtnahme und Gehorsam üben, die ihnen mit Schutz und Befriedung vergolten werden.

Thierse: „Solcherart definierte kulturelle Identität ist das Gegenteil von dem, worauf Identitätspolitik von rechts oder gelegentlich auch von links zielt.“ Konkret moniert er die in Medien und an Universitäten herrschende „Cancel Culture“ gegen „andere, abweichende Ansichten“, „die verordnete Sprache“, die Absage an „Vernunftgründe“ und das „begründende Argument“ zugunsten „eigener Betroffenheit“ und „subjektiven Erlebens“. Er weist den „Mythos der Erbschuld des weißen Mannes“ und die „neuen Bilderstürmer“ zurück, die ohne Kenntnis der die „Bedeutungsgeschichte eines Namens“ den öffentlichen Raum ideologisch säubern wollen. „Die Reinigung und Liquidation von Geschichte war bisher Sache von Diktatoren, autoritären Regimen, religiös-weltanschaulichen Fanatikern.“

Obwohl die genannten Repressionen sämtlich von linker Seite kommen, überwiegt für Thierse das „Gefährliche und Illusionäre rechter Identitätspolitik“. Es bestehe darin, „daß sie kulturelle nationale Identität als ethnische und kulturelle Homogenität mißversteht und als solche durchsetzen will, also nicht Unterscheidung, sondern Ab- und Ausgrenzung betreibt bis zu Intoleranz, Haß und Gewalt gegenüber den ‘Anderen’, den ‘Fremden’.“ Linke Identitätspolitik hingegen vertrete „berechtigte Interesse, für (bisherige) Minderheiten gleiche soziale, ökonomische und politische Rechte zu erringen. Sie ist eine Antwort auf erfahrene Benachteiligungen (…).“ Leider neige sie dazu, die „notwendigen Durchsetzungs- und Verständigungsprozesse zu verkürzen und zu verengen“.

Ja, was denn nun? Wo er eben noch Fanatismus, Dummheit und asoziale Selbstbezogenheit am Werk sah, möchte Thierse plötzlich an ein „gelegentlich“ überschießendes Gutes glauben. Er verdrängt die seinem Text implizite Erkenntnis, daß die linke Identitätspolitik (sprach-)politisch und institutionell längst aus der Position der Stärke agiert. Ihre Vertreter wollen die „Verständigungsprozesse“ nicht nur „verengen“, sie meinen sie gar nicht mehr nötig zu haben. Ihre Emanzipations- und Befreiungsrhetorik ist Ausdruck unverhohlener Machtansprüche, die sich herrisch über das von Thierse idealistisch gedachte Ganze stellen. Und der Staat duldet und fördert sie nicht nur, er macht sich ihre Forderungen sukzessive zu eigen. 

Wie ist das zu erklären? Die indirekten Gewalten, die sich nach Hobbes Vorstellung dem einheitlichen Willen des Leviathans unterordnen sollten, sind – nach Carl Schmitt – als „Mächte der Gesellschaft“ zurückgekehrt und darangegangen, den Leviathan zu zerlegen und sein Fleisch unter sich zu verteilen. Im Ergebnis sind seine Institutionen „zu Waffen und Machtpositionen höchst unliberaler Mächte“ geworden. Neben den Parteien, Medien, Gewerkschaften und gesinnungsethisch agierenden Kirchen wären heute NGOs, Stiftungen, antirassistische und linke identitätspolitische Bewegungen und Initiativen zu nennen, die offensiv an der ideologischen Ummodelung der Gesellschaft arbeiten.

Rechte Identitätspolitik ist hingegen defensiv, sie verteidigt den alten Leviathan. Nur deshalb wird sie von den „Mächten der Gesellschaft“ als Feind identifiziert und behandelt. Auch Thierse erweist sich als Fleisch vom Fleische der sogenannten fortschrittlichen Kräfte, wenn er den Gedanken der „Ab- und Ausgrenzung“ in den Graubereich des semikriminellen Verdachts rückt.

Ein Gemeinwesen, um friedlich zu bleiben, kann auf Ausgrenzung gar nicht verzichten. Der Historiker Rolf Peter Sieferle schrieb, die Einwanderung aus vormodernen in rechtsstaatlich verfaßte Gesellschaften führe dazu, daß neben „den Rechtsstaat nun wieder die Tribalgesellschaft (tritt), die diesen nicht als überlegene Formation anerkennt“. Wie zur Bestätigung rief ein Berliner Grünen-Vorstand Schwarze zur Formierung „robuster Communitys“ auf, „um nicht mehr die Polizei rufen zu müssen“. Aufstände und Plünderungen seien legitimer Widerstand gegen „rassistische Institutionen“. Im Jargon des Antirassismus werden Praktiken des Bürgerkriegs propagiert. 

Jüngst haben zwei in Berlin lebende Künstler afghanischer und tamilischer Herkunft die identitätspolitische Eskalation mit dem Vorschlag vorangetrieben, Deutsche im Allgemeinen als „Menschen mit Nazihintergrund“ beziehungsweise „Genozidhintergrund“ zu bezeichnen. Das ist die logische Konsequenz und Kehrseite einer selbstverordneten Negativ-Identität, die durch Gestalt, Ort und Ausmaß des Holocaust-Mahnmals ihren verbindlichen Ausdruck gefunden hat.

Thierse geht im FAZ-Artikel in die richtige Richtung, doch auf halbem Wege verlassen ihn der Mut, der freie Blick und die Kraft zur Erkenntnis. Frei nach dem von ihm hochverehrten Willy Brandt: Er hat sich bemüht. Immerhin.