© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 11/21 / 12. März 2021

Wenn unvermeidbare Tabusysteme aufeinanderprallen
Höllische Explosionen
(ob)

Der US-Anthropologe Manvir Singh betreibt seit 2014 Feldforschung auf der indonesischen Insel Siberut, um zu klären, wie Tabus entstehen und welche Macht sie ausüben. Dabei zeichnet sich für ihn eine Revision der zur herrschenden ethnologischen Meinung avancierten Geringschätzung von Tabusystemen ab. Sie seien, so heiße es, in modernen Gesellschaften inzwischen nutzlose Kontrollmechanismen, historische Überbleibsel und Ausweis von Gruppenzugehörigkeiten, die zu überwindende Grenzen des menschlichen Geistes widerspiegeln. Daß es sich jedoch tatsächlich um anthropologische Konstanten handelt, zeigt sich für Singh an der Universalität evolutionärer Schutzmechanismen wie den Tabus gegen Inzest, Kannibalismus, Nekrophilie oder Sodomie, die von fast allen Menschen auf allen Kulturstufen befolgt würden. Welche gewaltigen Kräfte Tabus auch auf anderen Konfliktfeldern freisetzen, erfuhr Singh während eines Forschungsaufenthalts in Toulouse, als er im November 2020 die „höllische Explosion“ registrierte, die die Enthauptung des Lehrers Samuel Paty durch einen Muslim auslöste. Das Tabu, den Propheten Mohammed zu karikieren, stieß auf das Tabu der Unantastbarkeit des französischen Säkularismus. Wo sich, als Ergebnis der Globalisierung, „Menschen mit unterschiedlichen, unvereinbaren Werten und Ansichten in einem in der Menschheitsgeschichte beispiellosen Ausmaß vermischen“, seien solche „Tabu-Zusammenstöße“ unvermeidlich. Verhindern ließen sie sich nur, so lautet Singhs surreales Multikulti-Mantra, „wenn wir einen gemeinsamen Sinn für das Heilige schaffen“ (Kulturaustausch, 1/2021) 


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