© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 11/21 / 12. März 2021

Der Mönch am Meer
Gedenken: In dieser Woche wäre der Schriftsteller und Lyriker Ulrich Schacht siebzig Jahre alt geworden. Aus diesem Anlaß ist jetzt ein Essayband mit seinen Natur- und Daseinsbetrachtungen erschienen
Thorsten Thaler

Es gibt Textzeilen, die bleiben einem dauerhaft in Erinnerung; sei es, weil sie eine kraftvolle Botschaft vermitteln, stilistisch prägnant sind oder von poetischer Schönheit. Dazu gehört für mich eine Überschrift aus dieser Zeitung, die vor genau zehn Jahren hier im Kulturteil stand: „Der Mann, der sich am Eise wärmt“. Sie betitelte eine Würdigung des Lebens und Schaffens des Schriftstellers, Lyrikers und Publizisten Ulrich Schacht aus Anlaß seines sechzigsten Geburtstages.

Der Mann, der sich am Eise wärmt. Wieviel Wehmut doch bei dieser Zeile aufsteigt, heute, wo Ulrich Schacht nicht mehr unter uns weilt. Eine Woche vor seinem plötzlichen Herztod im September 2018 hatten wir noch Mailkontakt wegen eines Essays von ihm für eine JF-Publikation. Zu der Zeit lebte er bereits seit zehn Jahren in Schweden. Zuvor hatte er als Reporter und Feuilletonredakteur der Welt und der Welt am Sonntag in Hamburg gearbeitet.

Sehnsucht nach Demut angesichts des Schöpfung

In dieser Woche nun, am 9. März, wäre er siebzig Jahre alt geworden. Aus diesem Anlaß ist in der Edition Buchhaus  Loschwitz (Dresden) eine Sammlung von Schachts Essays zu Natur- und Daseinsbetrachtungen erschienen, und wenn Klappen-, also Verlagswerbetexte je beachtlich gewesen sein sollten, dann in diesem Fall, handelt es sich doch um „eine Hommage an das Sein in Landschaft und Welt“.

Der Band enthält vierzehn Texte; die zwei ältesten stammen von 1993, die meisten anderen aus der erste Dekade der 2000er Jahre. Ein Vorwort dazu hat Schachts enger Freund und Wegbegleiter Heimo Schwilk verfaßt.

Thematisch kreisen die Essays um Schachts Verständnis von Freiheit, um Standhaftigkeit und Widerständigkeit im Angesicht vielfältiger Zumutungen in einer entzauberten Welt, ferner um das Wesen der Poesie sowie immer wieder um seine Zwiesprache mit der Natur und ihren mannigfaltigen Prägungen. Das Bedürfnis danach treibt ihn zu entlegenen Gestaden, bis in die Arktis.

Davon zeugen seine von geistesgeschichtlichen und philosophischen Reflexionen durchdrungenen Reisereports aus Franz-Josef Land, einer Inselgruppe im Nordpolarmeer, von Spitzbergen, einer zu Norwegen gehörenden Insel im Nordatlantik, sowie von der ostpreußischen Kurischen Nehrung. „Der Grund der Welt ist weiß, das blaue Gewölbe darüber wahr. Zwischen den Farben der Mensch, der ich bin (…)“, notiert er an der Kurischen Nehrung. „Der Versuch, die Dinge zu bewahren, die wir verloren haben, wird an Orten gemacht, die jenen Verlust nicht nur einfach ins Bewußtsein heben, sondern ihn ins Unwiderlegbare beweisen.“

Als zentrales Bildmotiv der Textsammlung darf eines der berühmtestes Gemälde der Romantik dienen, Caspar David Friedrichs „Der Mönch am Meer“, entstanden zwischen 1808 und 1810. Schacht kommt darauf in seinem Essay „Bell Island im Eismeer. Poetische und andere Notizen zum Gebrauch der Droge ‘Arktis’“ zu sprechen. Er sieht darin „die Ikone des romantischen Lebensgefühls und seiner Sehnsucht nachVerschmelzung mit dem beseelten Ganzen“.

Unter Theologen gibt es die Auffassung, das Bild thematisiere den Tod und den Ausblick auf das Jenseits, die Psychoanalyse deutet es häufig als Stimmungsausdruck von Verlust- und Einsamkeitserfahrungen. Schacht hält dem entgegen: „Das Bild ist zumeist als Allegorie restloser Verlorenheit des Menschen im Universum verkannt worden; es ist aber ein Bild, das vielmehr den Moment vollkommenen Daseins zeigt.“ Und er zitiert den Maler Friedrich selbst: „Ich muß allein bleiben und wissen, daß ich allein bin, um die Natur vollständig zu schauen und zu fühlen; ich muß mich dem hingeben, was mich umgibt, mich vereinigen mit meinen Wolken und Felsen, um das zu sein, was ich bin.“

Das Gemälde, so Schacht, lebe von der „durchdringenden Sehnsucht nach Demut angesichts des Ganzen“. Davon getrieben empfand sich auch der Dichter. Ulrich Schacht liebte die Natur und ihre vielfältigen Prägungen, weil er sie als unhintergehbaren und unhinterfragbaren Teil der Schöpfung verstand. Der gottesfürchtige Ordensgründer einer Evangelischen Bruderschaft hat die Selbstermächtigung des Menschen über die Schöpfungsnatur zeitlebens überaus kritisch gesehen. Heimo Schwilk spricht in seinem luziden Vorwort davon, daß Schacht diese „Nichtigkeit des Unterwerfungsversuchts“ stets konstatiert habe, um zugleich die „Einfallsschneisen des Kosmos in kristallklaren Bildern zu schildern“. Schwilk über Schacht: „Dieser Mann ist in der Natur zuhause. Sie ist das Fundament, auf dem sein Denken und Schreiben ruht, eine Welt, die er nicht als Gegenwelt, sondern als Heimat empfand.“

Hätte Ulrich Schacht realiter in der Welt Caspar David Friedrichs gelebt, der Dichter wäre für den Maler ein Vorbild für den Mönch am Meer gewesen.

Ulrich Schacht: Im Schnee treiben. Essays zum poetischen Weltverständnis. Edition Buchhaus Loschwitz, Dresden 2021, broschiert, 262 Seiten, 19 Euro

Foto: Ulrich Schacht (2015): Der Dichter empfand die Natur als sein Zuhause, sie war ihm Heimat