© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 11/21 / 12. März 2021

Pans Wiedergeburt
Überflußgesellschaft: Die Verwüstung der Moderne erfaßt Natur wie Mensch gleichermaßen
Konstantin Fechter

Eines Morgens in der Regentschaft des Kaisers Tiberius segelte ein Schiff zum Hafen von Palodes, einem verschlafenen Fischernest am Bos-porus. Von weitem sah man einen ägyptischen Steuermann namens Thamus an der Reling, die Hände zu einem Trichter an seinen Mund geformt. Er rief die sensationelle Kunde in den Wind, der sie schnell zu der aufgescheuchten Küstenbevölkerung trug: „Der große Pan ist tot! Der Herr der dunklen Wälder ist nicht mehr.“ Die Bewohner von Palodes blickten unsicher über ihre Stadt hinaus, hoch zu den unwirtlichen Gipfeln der Berge und ihren tiefen Schluchten. Ein Schauer überkam sie, glaubten sie doch den Todesschrei des bocksbeinigen Gottes zu hören.   

Der antike Geschichtsschreiber Plutarch berichtet über diesen rätselhaften Vorfall. Pans Ende ist die einzige Überlieferung vom Tod eines Gottes in der griechischen Mythologie. Woher stammt die kühne Vermessenheit, über das Undenkbare zu schreiben?

Eine für den Menschen lebensfeindliche Ödnis

In der Antike standen gleich mehrere Götter für die Natur und ihre Fruchtbarkeit. Ob Demeter, Persephone, Aphrodite oder Artemis, in vielen Tempeln brannten Opferfeuer zur Besänftigung einer undurchschaubaren Umwelt. Pan aber war keiner von ihnen. Keine Befruchtung ging von ihm aus, ihn trieb allenfalls eine zerstörerische Geilheit, mit der er über seine Opfer herfiel. Nicht einmal in den Olymp wurde das Wesen, halb Mensch, halb Ziege, aufgenommen. Er war kein Förderer der Olivenhaine und Weinreben, sondern entstammte den finstersten Dickichten einer archaischen Wildnis. Eine für den Menschen lebensfeindliche Ödnis, die keine Erträge in Form von Nahrung oder Rohstoffen, wohl aber den Schrecken des Unbekannten versprach. Von dort, wohin niemand mehr einen Schritt setzen wollte, wo Nymphen und Satyre ihre Orgien feierten, erklang seine Flöte. Zur Mittagsstunde, wenn die Schatten am kürzesten fallen und für die alten Griechen die Geisterstunde begann, tönte sie aus den Wäldern und vertrieb die Herden der verängstigten Hirten. Sie brachten Pan Gaben auf den Weiden dar, nicht weil sie ihn schätzten, sondern weil sie seinem Treiben entgehen wollten. Panik als Begriff für die kopflose Flucht ist bis heute im Wortschatz der europäischen Sprachen verblieben.

Plutarch schilderte die Zuversicht, mit der sich die Zivilisation in der antiken Welt auszubreiten begann. Sie bezeugt einen Menschen, der nicht nur seinen Charakter veredeln, sondern auch seine Umwelt gestalten will. Gepflasterte Straßen erschließen das Land, Urwälder werden zu nutzbaren Forsten und Sümpfe trockengelegt. Die Bewegung von Stadt zu Stadt wandelt sich vom Überlebenskampf zur bewußtseinserweiternden Erfahrung des Reisens. Pan und sein menschenfeindliches Refugium fürchtet man im römischen Imperium hingegen immer weniger. Und Götter, vor denen niemand mehr kniet, die sterben aus. So fordern es die Gesetze des mythologischen Darwinismus.

Über Jahrtausende verstand sich die Menschheit in ihrem Kampf gegen Pans Reich. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein war die verbliebene Wildnis nicht nur ein Ort des Unbegehbaren, sondern auch des Ungewissen. Verlustreiche Expeditionen entlang des Amazonas, Seefahrten durch die arktische Nordost-Passage und Besteigungen des Himalaya waren nötig, um der Welt ihre letzten Geheimnisse zu entreißen. Jeder Entdecker, der eine Fahne in unbetretenen Boden rammte, stieß diese auch zugleich in das Herz des Ziegengottes.

Konsumfetischismus bleibt nicht folgenlos

Doch der Tod Pans war nicht von Dauer. In dem Moment als der Mensch sich herrschend über den Planeten wähnte, vollzog sich die Wiedergeburt des Bocksbeinigen. Denn die industrielle Verbrauchsgesellschaft hat längst ihre eigene Wildnis erzeugt, brutal und unbezähmbar wie in alten Tagen.

Jahrzehntelanger Raubbau und Konsumfetischismus bleiben nicht folgenlos. Aus den Meeren erheben sich neue Landmassen, bestehend aus Plastikflaschen, Fischernetzen und anderem Treibgut. Wüsten fressen sich unaufhaltsam über die südlichen Kontinente und errichten eine Herrschaft des Vegetationslosen. Durch Versalzung und Erosion verschwinden auf der Erde jedes Jahr Millionen Hektar fruchtbaren Bodens, der sich in lebensfeindliches Gebiet wandelt. Mit der ökologischen Krise des 21. Jahrhunderts erhält die Natur ihren ursprünglichen Schrecken zurück.

Langsam aber stetig beginnt sich die Verödung an den Rändern der Zivilisation auszubreiten. Pan hat die Einsamkeit seiner Wälder verlassen und ist dem modernen Menschen nahe gerückt wie einst den attischen Hirten. Leere und Verwüstung ziehen ihn an. Er findet sie in verwaisten Vororten, brachliegenden Industriegebieten, den Müllbergen der Slums und an den verschlammten Ufern vergifteter Flüsse. Ausgebrannte Landstriche, denen kein Sinn, keine Ästhetik und kein Ertrag abzugewinnen ist. Es sind Gegenden voller Unwirtlichkeit und Gefahr, in denen das Gesetz der Steppe herrscht.

Verfallende Wohnkomplexe bilden eine abweisende Betonmonotonie, Gestrüpp wuchert über Ruinen und aufgeplatztem Asphalt. Der Brandgeruch aus Tonnen, gefüllt mit Kerosin und alten Autoreifen, liegt in der Luft. Wilde Hundemeuten fallen in Ermangelung anderer Beute übereinander her. Einst reiche Kulturlandschaften wandeln sich zu sterilen Todeszonen, in deren pestizidreichen Atem die dort beheimatete Tierwelt ausstirbt.

Die Überflußgesellschaft erzeugt eine Klasse der Überflüssigen. In Untätigkeit vegetieren die Bewohner der Kulturbrache ohne Aufgabe, vergeudete Existenzen an der Peripherie der Fortschrittsareale. Dort, wo der Firnis der Zivilisation bröckelt, beginnt die Regression der ethischen Persönlichkeit. Bisweilen hören sie die Flöte des Ziegengottes, die sie an ihre Nutzlosigkeit erinnert und geraten in Panik. Amokwellen durchziehen die Ghettos und dringen bis in die durch Wohlstand abgeschotteten Viertel vor. Sinnlose Gewalt, deren einziger Zweck darin besteht, die Welt noch trostloser zu machen, als man sie selbst vorgefunden hat.

Der amerikanisch-britische Lyriker T. S. Eliot skizzierte schon 1922 diese Ödnis in seinem Versepos „Das wüste Land“. Für ihn gab es einen Zusammenhang zwischen einem immer apokalyptischer anmutenden Landschaftsbild und dem verwahrlosten Zustand der modernen Seele: „Hier kann man nicht stehen nicht liegen nicht sitzen / Nicht einmal Stille ist in den Bergen / Nicht einmal Einsamkeit ist in den Bergen / (…) Wäre hier Wasser könnten wir halten und trinken / Man kann in den Felsen nicht halten noch denken.“

Eliot, der an neurotischer Unruhe litt und am Rande eines Nervenzusammenbruchs schrieb, fand nicht nur seine eigene Krise in diesem Panorama des Verfalls wieder. Es ist der selbstermächtigte Mensch, der seinen Sinn für das Tiefe verloren hat. Seine metaphysischen Quellen sind versiegt, in ihm hat sich eine den Leib und Geist durchdringende Trockenheit ausgebreitet. Das Verdursten ist ein tagelanger, qualvoller Prozeß. Ein Sterben, welches kein Ende nimmt. In Eliots düsterer Schilderung ist zwischen Gegenwartsmensch und Wüste nicht mehr zu unterscheiden. Die dargestellten Begegnungen des lyrischen Ichs mit anderen Personen sind kraftlos und leer. Karger Boden, der keine Fruchtbarkeit mehr besitzt. Das Hoffen auf eine Sintflut soll der Landschaft Leben bringen, indem sie das eigene Leben auslöscht.

Verteilungskämpfe um Lebensqualität beginnen 

Im Zeitalter von grenzenlosem Verkehr, stetiger Produktion und unstillbarem Energiebedarf sehen sich die Verbliebenen mit einer doppelten Verödung konfrontiert. Indem Kulturlandschaft zur Brache wird und die Wildnis verwüstet, bleibt ihnen nur der Rückzug auf stetig schrumpfende Zivilisationshabitate. Dort drängen sich immer mehr Menschen auf immer weniger Platz. Die Verteilungskämpfe um Raum und Lebensqualität beginnen. Indem der Nächste zum Fremden wird, verliert sich der letzte Zugang zueinander.

Den Gang der Dinge hat Eliot in seinem zweiten großen Gedicht „Die hohlen Männer“ erahnt: „An diesem letzten Zufluchtsort / ertasten wir einander / und bleiben stumm“. Eliot entlarvt das zivilisatorische Heilsversprechen als gefährliche Illusion. Als Reaktion auf die große Enttäuschung, nicht über der Natur zu stehen, sondern ihr Los zu teilen, erfolgt der völlige Zusammenbruch von Sprache, Geist und Glauben. Alles, was ihnen verbleibt, ist stummes Ertragen: „Auf diese Weise endet die Welt / Nicht mit einem Knall, sondern einem Wimmern.“

Durch die Gleichzeitigkeit von Umweltkatastrophe und kulturellem Substanzverlust wird letzterer nicht als hinreichende Bedingung für die ökologische Erschütterung erkannt. Stattdessen dominiert eine organisatorisch-technische Blendungsphilosophie, welche der Problematik des äußeren Weltverfalls Vorrang vor allem anderen gibt. Aus dieser erwächst ein obskurer Endzeitkult und damit verbundenes Zelotentum.

Der Eifer, mit dem sich mancher auf die Bekämpfung der Erderwärmung stürzt, dient lediglich der Projektion einer ungelösten persönlichen Krise. Aus Furcht vor einer Auseinandersetzung mit der eigenen Ödnis muß der gesamte Planet als Therapieobjekt dienen. Das Eingeständnis einer Endlichkeit von Ressourcen und Kapazitäten auf dem Globus bringt keine Erkenntnis über die Grenzen des Machbaren, sondern erhöht den Optimierungswahn über die vorhandene Biomasse. Die neuen ökoesoterischen Untergangspropheten predigen Selbsterhalt durch rigorose Selbstverleugnung. Das Thermometer wird ihren Prozessionen wie eine Monstranz vorangetragen, Emissionshandel ersetzt die Ablaßlehre. Immer aggressiver drängen die Klimapriester auf eine Änderung der individuellen Verhaltensweisen unter der sie lediglich eine gestörte Verbrauchermentalität verstehen.

Zum eigentlichen Kern der Erschütterung, dem deliriösen Zustand einer zu reinem Materialismus verdorrten abendländischen Kultur, wird in diesen ökonomisch-soziologischen Besserungsappellen nicht vorgedrungen. Ihre Litaneien beschwören den kompromißlosen Verzicht bis hin zur Selbstauslöschung, preisen ein kinderloses Leben als Notwendigkeit für die Schonung des Ökosystems. Die innere Unfruchtbarkeit wird dadurch zum biopolitischen Programm. Durch die Errettung der leidenden Erde erhoffen sie sich eine Erlösung aus ihrer eigenen Kalamität. Infolge dieser Selbstvergessenheit wird die Bewahrung des Menschen wie die seiner Umwelt zu einer rein technokratischen Angelegenheit erklärt.

Eliot selbst fand letztlich seelische Stärkung durch die Konversion zur Anglikanischen Kirche. Er zeigt dadurch, daß auch im wüsten Land der Moderne ein Frieden zu erreichen ist. Während die Kirche als Institution vor einhundert Jahren noch spirituelles Obdach bot, verweigert sie heute die Antwort auf brennende Fragen. Noch weniger Substanzgewinn ergibt sich im Anschluß an die klimafixierte Ersatzreligion dieser Tage. Der Mensch wird in der Wildnis des 21. Jahrhunderts gründlicher und einsamer suchen müssen, um schützende Oasen zu finden. Bis dahin begleitet ihn nur ein Geräusch. Es ist das Flötenspiel des Pan. 

Foto: Ein Faun (in der griechischen Mythologie entspricht ihm der Hirtengott Pan) spielt auf der Flöte, Illustration des Schweizer Malers und Grafikers Carlos Schwabe, um 1905: Er vertrieb die Herden der verängstigten Hirten.Panik als Begriff für die kopflose Flucht ist bis heute im Wortschatz der europäischen Sprachen verblieben.