© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 11/21 / 12. März 2021

Der unrühmliche Asylant
Im März 1921 erschoß ein Armenier den früheren Talaat Pascha, den Verantwortlichen für den Genozid an seinem Volk
Bodo Bost

Am 15. März 1921 wurde in Berlin der ehemalige osmanische Großwesir und Hauptverantwortliche für den Völkermord an den Armeniern, Talaat Pascha, von einem Armenier erschossen, der danach von einem Gericht vom Mordvorwurf freigesprochen wurde. Fast die gesamte in Kriegsverbrechen verstrickte osmanische Regierung hatte 1918 in Deutschland Asyl gefunden, so unrühmlich waren die Anfänge des deutschen Asylrechts.

Talaat kam als Postbeamter in die Politik. Er gehörte zum Triumvirat von Jungtürken, das 1913 im Osmanischen Reichen die Macht an sich gerissen und das Land an der Seite der Achsenmächte in den Ersten Weltkrieg hineingezogen hatte. Den Völkermord an den Armeniern organisierte Talaat seit dem 24. April 1915 mit Hilfe der Staatsverwaltung, aber auch einiger Geheimorganisationen seiner Partei. Er ordnete als Innenminister mit dem Tehcir-Gesetz (Gesetz zur vorübergehenden Deportation) die Deportation der Armenier in die syrische und mesopotanische Wüste an. 

Den Tod von etwa 1,5 Million Armeniern legitimierte er als kriegsbedingte Umsiedlung einer unzuverlässigen Minderheit. Widerstrebende Gouverneure und Beamte wurden selbst gewaltsam beseitigt und durch Anhänger einer radikalen Linie ersetzt. Zahlreiche Diplomaten und namhafte Persönlichkeiten konfrontierten Talaat Pascha noch während der Massaker mit seinen Taten. Offen bestätigte er in Gesprächen mit dem deutschen und amerikanischen Botschafter, die lästigen Christen der Türkei unter dem Deckmantel des Ersten Weltkriegs zu vernichten. Auch in einem Interview mit dem Berliner Tagblatt vom Mai 1915 gab er die Vernichtungsabsicht offen zu, dennoch leugneten er und seine späteren Nachfolger in der Türkei ihre Verantwortung an diesem Völkermord.

Offenbar hatten die Täter des Völkermords, die das Strafmaß kannten, das die Alliierten für die Kriegsverbrecher vorgesehen hatten, auch ihre deutschen Verbündeten unter Druck gesetzt. So organisierten die Deutschen noch die Flucht der Verantwortlichen. Nachdem die Briten den Osmanen am 30. Oktober 1918 den Waffenstillstand von Mudros aufgezwungen hatten, flohen die Kriegsverbrecher in der Nacht vom 2. auf den 3. November 1918 auf einem deutschen U-Boot über das Schwarze Meer nach Odessa und von dort per Zug nach Berlin. 

Attentäter kam wegen seiner Traumatisierung frei

Hier lebte Talaat ab dem 10. November 1918 bis zu seinem gewaltsamen Tod unter dem Namen Ali Sai, zunächst in einem Sanatorium in Neubabelsberg. Nach einiger Zeit hatten Freunde ihm eine Dreizimmerwohnung in der Hardenbergstraße in Charlottenburg besorgt. Hier wohnte er mit seiner Frau Hayriye Hanım. Später zog noch ein weiterer Kriegsverbrecher, Nazım Bey, in die Asylsucher-WG dazu. Während 1919 osmanische Gerichte in Istanbul  130 Kriegsverbrecher der zweiten Reihe vor Gericht stellten und drei wegen ihrer Verwicklung in den Völkermord sogar hinrichten ließen, wurden die Hauptverantwortlichen nur in Abwesenheit zum Tod verurteilt. Talaat arbeitete von Berlin aus sogar an einer politischen Rückkehr in der Türkei, wo er die Milizen von Mustafa Kemal im türkischen Befreiungskrieg unterstützte, an deren Spitze er sich künftig zu stellen hoffte. Er plante bereits seine Rückkehr nach Angora (heute Ankara), der neuen Hauptstadt der republikanischen Türkei, die den Sultan in Konstantinopel bekämpfte.

Der Botschafter des Sultans in Berlin, Rıfat Pascha, verlangte von den deutschen Behörden die Auslieferung Talaat Paschas an die Türkei, nachdem er von dessen Aufenthalt in Berlin erfahren hatte. Die deutsche Regierung unter dem Sozialdemokraten Friedrich Ebert kam dem Auslieferungswunsch Rıfat Paschas allerdings nicht nach, man tat so, als wüßte man nichts von einem Aufenthalt der als Asylsucher getarnten Kriegsverbrecher in Deutschland. Talaat allerdings gab Interviews für Zeitungen und reiste nach Holland und Schweden um Gesinnungsgenossen zu treffen; der britische und auch der sowjetische Geheimdienst waren ihm auf den Fersen.

Am 15. März 1921 wurde Talaat dann von dem armenischen Studenten Soghomon Tehlirian in der Hardenbergstraße in der Nähe seiner Wohnung auf offener Straße erschossen. Tehlirian stammte aus Erzurum, der armenischen Hauptstadt Anatoliens. Er war Mitglied des geheimen armenischen Kommandos „Operation Nemesis“, das die Haupttäter des Genozids an den Armeniern verfolgte und tötete, als erste jedoch die Verräter innerhalb der armenischen Volksgruppe. Tehlirian rechtfertigte vor Gericht das Attentat mit folgenden Worten: „Ich habe den Mörder von 78 Mitgliedern meiner Familie gerichtet.“ 

Deutsche Offiziere, die der Militärmission im damaligen Osmanischen Reich angehörten, erhoben als Zeugen Anschuldigungen gegen die Militärführung des Osmanischen Reichs. Nach einem kurzen zweitägigen Prozeß wurde Tehlirian von dem Geschworenen-gericht wegen Unzurechnungsfähigkeit aufgrund der traumatischen Erfahrungen, die er während des Völkermordes gemacht hatte, für unschuldig befunden. Talaat wurde zunächst auf einem türkischen Märtyrerfriedhof in Berlin beerdigt. 1943 wurden seine sterblichen Überreste nach Istanbul überführt und im Freiheitsdenkmal in Şişli, Istanbul, in einem Ehrengrab beigesetzt. Seine Rückkehr in die Türkei wurde von der türkischen Gesellschaft sehr begrüßt, und an der Beerdigungszeremonie nahmen Vertreter der türkischen Politik sowie der deutsche Botschafter Franz von Papen teil.  

Aus einem Massenmörder wird ein Märtyrer

Bereits kurz nach seinem Tod erschienen im Oktober 1921 die „Posthumen Memoiren von Talaat“ in der New York Times. In diesen gab Talaat zu, die Armenier in einem vorbereiteten Plan absichtlich in die östlichen Provinzen des Osmanischen Reiches deportiert zu haben. Auch von fast allen Historikern wird er als einer der Hauptverantwortlichen für den Völkermord an den Armeniern angesehen. Innerhalb der modernen Türkei konzentriert sich die Kritik auch auf die beiden anderen Paschas, Enver und Cemal, weil sie gemeinsam für den Eintritt des Osmanischen Reiches in den Ersten Weltkrieg verantwortlich waren. 

Obwohl auch der Gründer der modernen Türkei, Mustafa Kemal Atatürk, Talaat und seine Kollegen für ihre Politik während und unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg kritisierte, hob er die osmanischen Todesurteile gegen sie auf. Heute wird Talaat Pascha in der Türkei als „großer Staatsmann, geschickter Revolutionär und weitsichtiger Gründervater“ angesehen, viele Schulen, Straßen und sogar Moscheen in fast jeder Stadt der Türkei sind nach ihm, einem Kriegsverbrecher und Massenmörder, benannt.

Foto: Sitzung des „Komitees für Union und Fortschritt“ mit Kriegsminister Enver Pasha, Arbeitsminister Cemal Pascha und Mehmed Talaat (vorne, dritter v. l.) 1914; Attentäter Soghomon Tehlirian (r.): Vernichtungsabsicht angekündigt