© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 11/21 / 12. März 2021

Verstrahlte Fakten und entstrahltes Wasser
Zehn Jahre nach der Fukushima-Katastrophe setzt die japanische Regierung dennoch weiter auf Atomkraft
Christoph Keller

Als es am 9. März 2011 vor der Pazifikküste der ostjapanischen Region Tōhoku mehrmals heftig bebte, interessierte das in Europa nur Geologen. See- und Erdbeben mit einer Magnitude von sechs bis sieben sind im Japangraben, wo die philippinische und die Pazifikplatte aufeinanderstoßen, gang und gäbe. Das Seebeben vom 11. März, dessen Stärke bei knapp über neun auf der Momenten-Magnituden-Skala lag, löste heftige Erdstöße aus, die bis ins 370 Kilometer entfernte Tokio spürbar waren – und den bislang verheerendsten Tsunami der japanischen Geschichte verursachten.

Das Tōhoku-Beben kostete laut jüngsten Angaben der nationalen Polizeibehörde NPA 15.899 Menschen das Leben, 6.157 wurden verletzt, und 2.527 Personen sind bis heute vermißt. 121.992 Gebäude wurden zerstört und 1,2 Millionen beschädigt. Zahlreiche Tsunamibarrieren, Evakuierungsorte sowie Überflutungsflächen waren einer solchen Katastrophe nicht gewachsen. Hinzu kam, daß einigen die Rettung ihres Besitzes wichtiger schien als die Flucht vor der Monsterwelle.

In Deutschland löste etwas anderes Aufregung aus: Die 14 Meter hohen Wellen überwanden auch die kaum halb so hohen Schutzmauern des 40 Jahre alten Kernkraftwerks Fukushima I. Der untere Teil der sechs Reaktorblöcke wurde überflutet. Wegen ausgefallener Notstromgeneratoren kam es in drei Blöcken mangels Kühlung der sofort abgeschalteten Reaktoren zur Kernschmelze – und zur Freisetzung radioaktiven Materials, so daß die Behörden etwa 130.000 Bewohner aus der Region evakuierten.

In der Präfektur Fukushima gab es 1.614 Tote, 196 Vermißte und 183 Verletzte – strittig ist, wie viele Katastrophenhelfer Langzeitschäden erlitten. Unmittelbar durch die Strahlung kam zunächst niemand zu Tode. Ein Faktum, das in der deutschen Debatte ignoriert wurde. Das schwarz-gelbe Merkel-Kabinett vollzog eilig eine „Atomwende“: Aus den Opfern einer Naturkatastrophe sowie mangelhafter Vorsorge des privaten AKW-Betreibers und japanischer Behörden wurden medial „AKW-Tote“, aus der gesetzlichen Laufzeitverlängerung vom Herbst 2010 wurde der beschleunigte Atomausstieg vom Sommer 2011.

Notwendige Ergänzung zu Sonnen- und Windkraft?

Daß das südlich gelegene AKW Fukushima II die Überflutung überstand, paßte auch nicht ins Bild – die vier Reaktoren wurden 2019 aus anderen technischen Gründen endgültig stillgelegt. Die sechs noch verbliebenen deutschen AKW, die etwa zwölf Prozent des Stroms liefern, sollen zum Jahresende (Brokdorf, Grohnde, Gundremmingen C) bzw. Ende 2022 (Emsland, Isar 2 Neckarwestheim 2) abgeschaltet werden. Japan, wo 2019 nur 6,4 Prozent des Stroms aus AKWs stammte, geht einen anderen Weg: Der konservative Ministerpräsident Yoshihide Suga kündigte im Herbst 2020 an, das Kaiserreich bis 2050 „klimaneutral“ zu machen. Dazu sollen die derzeit drei Viertel der Stromerzeugung aus Kohle, Gas und Erdöl nicht nur durch „erneuerbare“ Quellen wie Erdwärme, Solar,- Wasser- und Windkraft, sondern auch durch Kernenergie ersetzt werden.

Mit dann 102 Jahren könnte Suga das noch erleben – doch der Weg wird nicht einfach. Immerhin sind zahlreiche Maßnahmen, um die radioaktive Kontamination zu Land und zu Wasser im Fukushima-Umkreis zu minimieren, erfolgreich. So konnte die Konzentration eines radioaktiven Cäsium-Isotops (137Cs), das eine Halbwertszeit von 30 Jahren aufweist, um mehr das Hunderttausendfache reduziert werden. Auch vor der Küste gefangene Fische weisen heute eine so geringe Cs-Aktivität auf, daß sie wieder zum Verzehr freigegeben sind.  Ebenso gelang es, große Teile des 2011 evakuierten Gebiets so gründlich zu entstrahlen, daß sie wieder bewohnbar sind. Das schwierigste Problem ist die Entsorgung von etwa einer Million Tonnen kontaminierten Wassers, das in tausend an Ort und Stelle gebauten Behältern lagert. Tepco möchte es in den Pazifik ablassen, doch Experten streiten über die Wirkungen der Restaktivität des mittels Zeolith-Ionenaustauschern entstrahlten Wassers auf die Meeresfauna und den Meeresboden. Plutonium (241Pu) scheint aber, anders als beim Tschernobyl-GAU oder bei den Atombombenversuchen, nicht ausgetreten zu sein.

Doch die radioaktiven Isotope von Kohlenstoff (14C) oder Kobalt (60Co) erfordern zwingend eine längerfristige Lagerung. Da auf dem AKW-Areal, wo täglich 200 Tonnen kontaminiertes Wasser hinzukommen, kaum Platz für weitere Behälter ist, scheint es unumgänglich, sie außerhalb des Geländes unterzubringen: bis die meisten von ihnen spätestens 2070, die letzten um 2145, in den Pazifik entleert werden dürfen.

Regierungsbericht zum Tōhoku-Beben: www.bousai.go.jp