© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 12/21 / 19. März 2021

„Ich habe mein Vertrauen verloren“
Linksextremismus: Die Opfer eines der schwersten Antifa-Angriffe der letzten Jahre sprechen mit der JUNGEN FREIHEIT über ihre Verletzungen und wie sie wieder ins Leben zurückfinden
Martina Meckelein

Ich solle abwarten, hatte mir zuvor ein Freund von Andreas Ziegler am Telefon geraten. Ich solle den Andreas nicht überfordern, er würde manches durcheinanderbringen, auch Dinge wiederholen. Wenn Opfer schwerster Verbrechen sich nicht mehr an ihr Martyrium erinnern können, dann ist es Aufgabe der Medien, diese Straftaten nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Um so mehr, wenn diese Kriminalität systemisch ist. Die JUNGE FREIHEIT hat die Überlebenden eines der brutalsten Angriffe von Linksextremisen der vergangenen Jahre besucht.

„Warten wir mal ein paar Minuten“, mit diesen Worten begrüßt mich Andreas Ziegler (55) an der Straßenecke unweit seines Hauses in Stuttgart, an der er mich abholt. Er schaut sich sichernd um, während er überlegt, ob er den Schlüssel im Türschloß umdrehen soll. „Da drüben ist einer mit einer schwarzen Maske“, und er weist mit einer Kopfbewegung zum gegenüberliegenden Fußweg. „Der könnte von der Antifa sein.“ Der Mann auf der anderen Straßenseite trägt einen dunklen Hoodie, schwarze Regenjacke und eine dunkle Maske. Er schaut nicht einmal zu uns und geht an diesem naßkalten, trüben Nachmittag nur schnell seines Weges. „Ich habe mein Vertrauen verloren, kommen Sie herein“, lächelt der Riese entschuldigend und schüttelt den Kopf, so, als ob er sich seiner selbst nicht mehr sicher wäre. Zwei Holztreppen hoch, die achtjährige Tiana, seine Doggen-Labrador-Mix-Hündin, wuselt uns zwischen den Beinen herum und bietet ihr Quietscheentchen zum Spielen an.

In der Stube des 130 Jahre alten Fachwerkhauses ist es mollig warm. Andreas Ziegler nimmt am Kopfende der Eckbank Platz. Auf dem Holztisch warten Eierschecke, Teller, Tassen und Servietten hübsch angerichtet auf mich. Es duftet nach frisch gebrühtem Kaffee. An der Wand gegenüber stehen Nußknacker aus dem Erzgebirge auf einem Regal. Ich hatte mir vor unserem Treffen Videos im Internet angesehen. Wie war der Andreas Ziegler, den es heute nicht mehr geben soll? Da spielt virtuos ein wahrer Hüne im Schottenrock den Dudelsack im Konzert. Der Mann, der mir jetzt gegenübersitzt, hat mit dem kraftstrotzenden Dudelsackspieler nichts mehr gemein. Die langen grauen Locken sind ab, der Wallebart ist schütter. Doch das sind nur Äußerlichkeiten. Der Schalk in den Augen scheint verschwunden. „Was wollen Sie wissen?“ fragt Ziegler. „Aber ich sag gleich, an den Überfall erinnere ich mich nicht.“

Dann erinnern also wir, die Chronisten an den 16. Mai 2020, in Stuttgart-Bad Cannstatt (JF 24/20). Eine der großen Corona-Demonstrationen soll unter dem Motto „Mahnwache für das Grundgesetz“ um 14.30 Uhr beginnen. Hier, in der baden-württembergischen Landeshauptstadt, hatten die Proteste gegen die Corona-Verordnungen vergangenes Jahr ihren Ursprung. Von hier aus breiten sie sich später auf ganz Deutschland aus.

Die Antifa-Schläger greifen koordiniert an

Ziegler arbeitet bei Daimler-Benz, und er ist Gewerkschafter. „Früher war ich bei der IG Metall, doch für die sind wir Arbeiter nichts wert. Heute engagiere ich mich bei ‘Zentrum Automobil’“. Die Gewerkschaft wurde 2009 für Mitarbeitern der Autoindustrie gegründet. Vorsitzender ist Oliver Hillburger, früher Mitglied der Rechtsrockband „Noie Werte“. Seine Ziele beschreibt der eingetragene Verein so: „Wir sind gegen den Arbeitsexport durch die Globalisierung, das Co-Management als legalisierte Korruption, Lohnverzicht als Erpressungsmittel milliardenschwerer Großkonzerne und die faulen Kompromisse satter Gewerkschaftsfunktionäre.“ Das Zentrum arbeitet mit der rechten Initiative „Ein Prozent“ zusammen. Es stellt allein bei Daimler in Untertürkheim sechs Betriebsräte. 

An besagtem Samstag macht er sich gemeinsam mit seinen Arbeitskollegen Jens Dippon (39) und Ingo Thut (46) auf den Weg zur Demo. Was alle drei nicht wissen: Zur selben Zeit hat sich eine Gruppe aus 20 bis 40 Linksextremisten in der Nähe des Cannstatter Wasens zusammengerottet. Sie wollen, so die Fahnder später, Personen, die sie der rechten Szene zuordnen, angreifen und verletzen, bewaffnet mit Pfefferspray, Schlagringen und Flaschen. Dafür gehen sie koordiniert vor: Sie sind uniformiert, tragen schwarze Kleidung, Tücher, Motorradmasken. Das soll sie gefährlicher erscheinen lassen und eine mögliche Identifikation erschweren. Sie haben Späher rund um den Cannstatter Wasen postiert.

Die drei Gewerkschafter können diese Lebensgefahr, in der sie schweben, nicht im mindesten erahnen. Die Daimler-Arbeiter haben ihre Autos geparkt. Die Sonne scheint, es ist ein warmer Mainachmittag. Jens Dippon bleibt einen Moment zurück, er zündet sich eine Zigarette an, die anderen gehen weiter. „Auf einmal sah ich den schwarzen Block auf die beiden losstürmen, und ich sah, wie sie Ingo umzingelten. Ich schreie noch: ‘Jungs, rennt!’ Doch dann sehe ich, wie rund 30 Mann den Andi umzingelten“, schildert der Industriemechaniker Dippon die Situation. Seine Warnung hören auch die Linksextremisten, machen ihn als neues Opfer aus, rennen auf ihn zu. „Plötzlich bekam ich Tränengas ab, und dann spürte ich Schläge. Vier Glasflaschen zerschlugen die mir auf dem Schädel, mit einem Schlagring schlugen sie mir ins linke Auge. Heute habe ich noch fünf Prozent Sehfähigkeit.“ Laut Zeugen, sagt Dippon, sollen es Weinflaschen gewesen sein. „Ich habe noch einen der Angreifer selbst geschlagen, obwohl ich nichts mehr sehen konnte“, ist er sich sicher.

Zur selben Zeit greifen fünf Schläger Andreas Ziegler an. Die Fahnder rekonstruieren folgenden Ablauf: Die Täter sollen erst mit Fäusten und Flaschen auf seinen Kopf eingeschlagen haben. Dabei sollen sie billigend in Kauf genommen haben, ihr Opfer zu töten. Darüber hinaus soll, was nach der Tat zu mehreren Nachfragen der JUNGEN FREIHEIT führte, einer der Schläger Ziegler eine Pistole an den Kopf gesetzt und abgedrückt haben. Allerdings habe sich kein Schuß gelöst. Ziegler verliert das Bewußtsein, liegt wehrlos auf dem Asphalt. Mindestens zwei Linksextremisten sollen weiter auf ihn eingeschlagen und getreten haben.

Auch der Maschinen- und Anlagenbediener Ingo Thut wird angegriffen. „Einer sprang mir in die Waden, ich fiel hin, dann sprühte er mir Pfefferspray ins Gesicht.“ Die Sprühdose soll die Form einer Schußwaffe gehabt haben. Damit schlagen die Linken auf Thut ein und treten ihm gegen den Oberkörper. Er erleidet Prellungen, Hämatome an den Schläfen und Schürfwunden.

Ein Augenzeuge schildert den Gewalt­exzeß und seine Angst vor den Schlägern. Er ruft, ob sie noch bei Sinnen seien. Daraufhin antwortet ihm ein Linksextremist, er solle sich beruhigen, das seien nur Nazis. Vorbeikommende Autofahrer hupen, andere rufen die Polizei. Aus den Autos steigt niemand – vor lauter Angst. Einzig zwei Frauen greifen ein, stoßen die Autotür ihres Wagens auf und zerren Thut ins Innere. Die Schläger hauen ab.

Als Jens Dippon wieder zu sich kommt, liegt er an einem Zaun. „Ein Polizist stand vor mir und fragte mich: ‘Ist das Ihre Pistole?’ Ich sagte nein.“ Es ist diese Frage nach der Pistole, die wochenlang die Polizei, die Medien und hinter den Kulissen auch die Politik beschäftigen wird. Gab es sie, diese Pistole? Es war die junge freiheit, die mehrfach nach dieser Waffe fragte.

Alle drei Männer kommen in die Klinik: Dippons Ringfinger und seine Nase sind gebrochen, wodurch es zu Einblutungen hinter der Hornhaut des linken Auges kommt. Er bleibt bis zum 19. Mai in der Klinik. Thut erleidet Prellungen und Hämatome. Ziegler ist lebensgefährlich verletzt: Schweres Schädel-Hirntrauma, ausgedehnte Hirnblutung, beidseitiger Schädeldachbruch und Kieferbruch. In der Klinik wird er noch am selben Tag operiert und liegt wochenlang im künstlichen Koma. Später befürchten die Ärzte ein Wachkoma. Zum Glück zeigt Ziegler am 31. Mai erste Reaktionen und wird am 3. Juni in eine Rehaklinik verlegt. Erst einen Monat nach der Tat beenden die Ärzte die künstliche Beatmung.

„Meine Schwester, die an meinem Bett wachte, sagte mir später, daß ich zuallererst den Namen meines Hundes flüsterte.“ Wer er ist, warum er in der Klinik liegt? Ziegler hat keine Ahnung. „Die Ärzte sagten nichts, in der Hoffnung, ich würde mich selber erinnern.“ Eines Tages schaut er in seinem Krankenzimmer Fernsehen. „Das war eine Nachrichtensendung. Und plötzlich sah ich mich auf einer Trage liegen – ich, im Fernsehen. Mein Zimmerkollege rief, Mensch, Andreas, das bist du doch!“

Neun Tatverdächtige kann die Polizei ermitteln

Langsam kommen bruchstückhaft die Erinnerungen zurück. An seine Familie, seine Kollegen, seine Hobbys – und seinen Hund. „Aber nichts zur Tat“, sagt Ziegler. Sein Arbeitskollege Thut telefoniert jeden Tag mit Zieglers Familie und informiert seine Kollegen bei Daimler. Eines Tages passiert folgendes: „Wissen Sie, bei Daimler haben wir ja Kollegen aus aller Herren Länder. Und während des Überfalls hörte ich einen der Schläger in einer fremden Sprache reden. Einmal, nachdem ich wieder zur Arbeit ging, hörte ich solch eine Sprache in der Kantine. Ich fragte sofort meinen türkischen Kollegen, was ist das für eine Sprache? Der sagte: Kurdisch.“

Ins Visier der Fahnder geraten neun Tatverdächtige aus Stuttgart, Ludwigsburg, Remseck, Fellbach, Waiblingen, Tübingen und Karlsruhe. Das Amtsgericht erläßt gegen zwei von ihnen Haftbefehl: einmal gegen einen jungen Deutschen (20) aus Ludwigsburg. Polizisten nehmen den Brauer-Lehrling am 2. Juli fest. Er wohnt bei seinen Eltern im Reihenhaus – schwäbische Mittelschicht mit Vorgarten. Er ist nicht vorbestraft, darf seine Lehre im Gefängnis beenden. Zur Tat äußert er sich nicht. Aktuell ist er gegen Auflagen aus der U-Haft entlassen. Anders der zweite Tatverdächtige: Der deutsche Staatsangehörige mit kurdischen Wurzeln (24) ist polizeibekannt: Verstöße gegen das Vermummungsverbot, uneidliche Falschaussage, Zuwiderhandlungen gegen Verbote. Insgesamt 110 Tagessätze zu je 15 Euro Geldstrafe und vier Monate Freiheitsstrafe zu zwei Jahren auf Bewährung. Er sitzt seit November in U-Haft.

Die Antifa ist besorgt, die Genossen könnten im Gefängnis plaudern. Die mentale Unterstützung liest sich auf der Indymedia-Seite so: „Heute morgen haben die Bullen willkürlich mehrere Wohnungen bei Antifas in ganz Baden-Württemberg gerazzt. Zwangsweise haben sie ED-Behandlungen durchgeführt und DNS-Proben entnommen. Dabei haben sie unseren Genossen Jo eingeknastet.“ Den versuchten Totschlag spielen sie herunter: „Hintergrund ist ein antifaschistischer Angriff auf bekannte Nazi-Aktivisten, die zu einer der Corona-Demos gehen wollten. Dabei ist ein Nazi, der auch als Betriebsrat bei Daimler in der Nazitruppe ‘Zentrum Automobil’ aktiv ist, liegen geblieben“. Der Text endet mit der Drohung: „Nazis aufs Maul!“

Die Stuttgarter Zeitung zitiert den baden-württembergischen Innenminister Thomas Strobl (CDU), der sich zu den Razzien geäußert. Er bezeichnete die Durchsuchungen als „bedeutenden Schritt zur Aufklärung“ und verurteilte, so die Stuttgarter Zeitung, brutale Gewalt als Mittel politischer Auseinandersetzung. Die Worte, mit denen er es tut, könnten läppischer nicht sein: „Das geht gar nicht.“

Andreas Ziegler nimmt seit November an einer Wiedereingliederungsmaßnahme seines Unternehmens teil. Seine Nachbarn und viele Kollegen unterstützen ihn. Er hat eine Lebensgefährtin gefunden. Oft schaut er sich Fotos und Filme von seinen Musikauftritten an. Heute mag er nicht mehr unter Menschen gehen. Zum Abschied neigt er plötzlich seinen Kopf vor und fordert mich auf: „Hier, fühlen Sie mal.“ Der Schädel scheint unter den Haaren von hinten bis vorne wie gespalten. „Ich kann mich nicht erinnern, aber das fühle ich jeden Tag.“

Am 19. April beginnt der Prozeß vor dem Landgericht Stuttgart wegen gemeinschaftlich versuchten Totschlags und gefährlicher Körperverletzung.

Foto: Nach dem Angriff am 16. Mai 2020 (r.): Eine Frau kniet neben dem schwerstverletzten Andreas Ziegler auf der Straße. Sie hält dem Bewußtlosen die Hand, streichelt ihm zur Beruhigung über den Rücken. Die Anschlagsopfer halten zusammen (oben): Andreas Ziegler, Ingo Thut und Jens Dippon (v.l.n.r.) Tatort-Skizze (ganz r.): Wenige Meter vor dem VfB-Stuttgart-Stadion überfielen die Antifa-Horden die drei Männer auf der Mercedesstraße.