© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 12/21 / 19. März 2021

Disziplinlos und unverschämt
Die Kunst des Schreibens: Reportagen über Außenseiter von Matthias Matussek
Thorsten Thaler

Was zeichnet eine gute Reportage aus? Ganz sicher eine präzise Beobachtungsgabe, selbstverständlich die Vor-Ort-Recherche, eine bildhafte Sprache im Präsens, der Text vermittelt Atmosphäre, enthält einen roten Faden, baut einen Spannungsbogen auf, mischt Fakten und Hintergrundinformationen mit persönlichen Eindrücken des Reporters.

So wird es an Journalistenschulen und in Ratgeberbüchern gelehrt, und diesen Merkmalen einer Reportage wird auch Matthias Matussek nicht widersprechen. Für den 67jährigen gehören indes nach eigenen Angaben noch zwei weitere Eigenschaften dazu: Disziplinlosigkeit und die Kunst, im entscheidenden Moment unverschämt zu sein.

Im Idealfall geht das so: Der Reporter will einen Schriftsteller porträtieren, der jedoch ein Treffen verweigert. Allenfalls auf Telefongespräche will er sich einlassen. Das ist der Deal. Also telefonieren die beiden über Tage hinweg immer wieder. Doch irgendwann denkt der Reporter: „Es gibt Zeiten für Vereinbarungen und Zeiten, wo Vereinbarungen gebrochen werden müssen.“ Er fliegt zum Wohnort des Schriftstellers, geht in eine Kneipe und ruft ihn von dort aus an: „Ich bin da.“ Am nächsten Mittag treffen sie sich das erste Mal. Frechheit siegt.

Oder, anderes Beispiel: Der Reporter will ein Porträt schreiben über einen US-Schauspieler. Die Filmlegende wird achtzig, doch die Produktionsfirma winkt ab, Interviews seien ausgeschlossen. Trotzdem fliegt der Autor zusammen mit einem Fotografen hin, schaut sich in der Stadt um, sie ist nicht sehr groß, jeder dort scheint von jedem zu wissen. Er spricht mit allen, die den Schaupieler persönlich kennen könnten, dem Sheriff, einem Theaterbesitzer, einem Hotelier, der Bürgermeisterin. Schließlich bekommt er den Hinweis auf ein Restaurant, in dem der Schauspieler öfter verkehrt. Eine ganze Woche lang lungert der Reporter da herum, vergebens, bis er an seinem letzten Abend vor dem Heimflug doch Glück hat. Der Mann, es ist Clint Eastwood, sitzt plötzlich am Nebentisch. „Hallo, wie geht’s?“ 

Künstler auf der Klippe wecken seine Neugier

Seit Jahrzehnten gehört Matthias Matussek zu den besten Reportageschreibern Deutschlands. Seine Erfahrungen schöpft er aus einem reichhaltigen Berufsleben: Absolvent der Deutschen Journalistenschule in München, 1983 bis 1987 beim Stern, danach beim Spiegel. Vom Mauerfall bis zum Tag der Deutschen Einheit Sonderkorrespondent des Magazins in Ost-Berlin; dafür wurde er 1991 mit dem Egon-Erwin-Kisch-Preis ausgezeichnet. Danach leitete er die Spiegel-Büros in New York, Rio de Janeiro und London, von 2003 bis 2007 war er Chef des Kulturressorts in Hamburg. Nach seinem Weggang vom Spiegel im Herbst 2013 arbeitete er bis 2015 für Springers Welt. Seither schreibt er als freier Autor unter anderem für die Schweizer Weltwoche, Tichys Einblick und die JUNGE FREIHEIT.

Soeben nun ist in der Edition Buchhaus Loschwitz der Dresdner Buchhändlerin Susanne Dagen eine Sammlung mit ausgewählten Texten von Matussek unter dem sprechenden Titel „Außenseiter. Von Rebellen, Heiligen und Künstlern auf der Klippe“ erschienen. Der Band in der „Exil“-Reihe enthält zehn Reportagen, bis auf eine aus der Weltwoche allesamt aus dem Spiegel, erstveröffentlicht zwischen 1988 und 2013, sämtlich zeitlos. Zu Matusseks Außenseitern zählen, neben einigen vielleicht weniger bekannten, Heinrich Heine und Georg Büchner, Hölderlin, James Joyce, das Künstlergespann Hans-Jürgen Syberberg und Edith Clever, der US-Schriftsteller Cormac McCarthy und eben Clint Eastwood. Figuren wie diese, „Künstler auf der Klippe, Gottsucher, Wahnsinnige, Versager, Verrückte“, haben Matusseks Neugier stets mehr geweckt als Siegertypen, wie er in seinem knappen Vorwort bekennt.

Hinreißend, wie er beschreibt, warum uns Heine, der „Erfinder“ des modernen Feuilletons, heute noch etwas angeht: „Ohne ihn würden wir anders reden, anders denken, anders seufzen, anders lachen. (…) Er mischte alles zusammen, den historischen Essay, den Boulevardbummel, den Gewissensappell, die Rezension und vergaß nicht den Tritt unter die Gürtellinie.“

Büchner, der Dramatiker und Revolutionär des Vormärz, mit nur 23 Jahren an Typhus verstorben, ist für Matussek die „Stichflamme der deutschen Literatur“, in dessen schmalem Werk sieht er „Meteoriteneinschläge“ in die Kunst. Über „Dantons Tod“ beispielsweise heißt es: „neu, kühn, alles in den Schatten stellend. Es ist scharfsinnig, vulgär, witzig, tragisch (…) Was für ein neuer Ton!“

Immer wieder blitzt Matusseks bildhafte Schreibe auf. Als ihm Clint Eastwood eine „sehr komplizierte lange Geschichte“ erzählt, versteht er nur die Hälfte, weil währenddessen in dem Lokal eine „verblühte Dame“ zu Klavierbegleitung „Somewhere Over the Rainbow“ singt, „mit einer Sehnsucht, die noch den Schafen draußen die Augen tränen läßt“. Das ist fürwahr ganz großes Kino!

Matthias Matussek: Außenseiter. Von Rebellen, Heiligen und Künstlern auf der Klippe. Edition Buchhaus Loschwitz, Dresden 2021, broschiert, 214 Seiten, 19 Euro