© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 12/21 / 19. März 2021

Im Bann von Georg Simmel und Ernst Cassirer
Historisch brillant, aber hoffnungslos apolitisch: Klaus Christian Köhnkes Leipziger Vorlesungen zur Kultur der Moderne
Philipp Nowak

Der Name des deutsch-jüdischen Goethe-Forschers Eugen Wolff (1863–1929), der sich 1888 an der Universität Kiel habilitierte und dort erst 1921 zum Ordinarius aufstieg, sagt heute selbst Experten für die Geschichte seines Faches nichts mehr. Für den Leipziger Kulturphilosophen Klaus Christian Köhnke (1953–2013) ist er hingegen, wenn auch nur für den Augenblick eines einstündigen Vortrags, zu einer Schlüsselfigur der Ideengeschichte geworden, weil er erstmals das Selbstverständnis der Moderne im vollsten Sinne des Wortes auf den Begriff brachte. 

Das gelang Wolff am 3. September 1886 im Hinterzimmer einer Kneipe am Spittelmarkt in Berlin-Mitte. Dort referierte der frisch promovierte Schriftsteller vor der literarischen Vereinigung „Durch!“ über das neue, naturalistische Kunstideal, das er gegenüber dem alten, idealistischen abzugrenzen versuchte. Indem er eine als Allegorie verkleidete „typische Männerphantasie“ bemühte, die den „Jünger der Kunst“ zunächst auf den Irrweg in den Tempel einer antiken Göttin schickt, wo er sich von deren klassischer, aber kalter Schönheit abwendet, um dann im großstädtischen Gewühl einem „jungen Weib, einer Arbeiterin und alleinerziehenden Mutter von wilder Schönheit“ nachzujagen. „Ihr muß er folgen, wie wenn ein lang Gesuchtes gefunden, ein lange nach Gestaltung Ringendes sich gestaltet, und es flüstert in ihm: ‘die Moderne’!“

Mit diesem Knalleffekt für „Wissens-lustige“ eröffnete Köhnke im Sommersemester 1998 seine Vorlesung über „Begriff und Theorie der Moderne“. Das Manuskript, nebst anderen zwischen 1996 und 2002 entstandenen Vorlesungstexten zu „Einführungen in die Kulturphilosophie“, ist vor einiger Zeit aus dem Nachlaß herausgegeben worden. Sämtliche Texte traktieren diesen „eigenwilligen Feminismus“, der seit über hundert Jahren in aller Munde ist, und der für die Ende des 19. Jahrhunderts anhebende „Zeit der vielen Namen“ (Odo Marquard) – „Industriezeitalter, Atomzeitalter, Spätkapitalismus, wissenschaftlich-technische Zivilisation, Arbeits-, Freizeit-, Risiko- oder Informationsgesellschaft“ – zum „Inbegriff aller Phänomene unserer Lebens- und Umwelt und der spezifisch neuen Lebensformen“ geworden ist.

Köhnke zeigt im Fortgang der Vorlesung auf, wie sich der Begriff der Moderne von Wolffs Festlegung auf das naturalistische Ideal einer spezifisch modernen Kunst, die etwa bei Gerhart Hauptmann das Elend schlesischer Weber abbildet, um auf eine sozial gerechtere Gesellschaft hinzuwirken, bald ablöste und schlechthin für die Gegenwart und „das Neue des modernen Lebens“ stand. Schon in den 1890ern, in der Debatte darüber, ob die humanistische Bildung für den Nachwuchs einer imperialistisch ausgreifenden Industrienation noch tauge, zeugt der Begriff vom radikalen Wertewandel, der mit der europäischen Bildungstradition brechen wollte. Real- und Reformgymnasium, wo die neueren Sprachen und nicht mehr das „tote“ Latein und Altgriechisch dominierten, begannen das Humanistische Gymnasium als die auf das Studium vorbereitende Regelschule zu verdrängen – parallel zum forcierten Ausbau der Technischen Hochschulen.

Spezialkompetenz ersetzte Allgemeinbildung

Als Motor für diese Zersplitterung des Bildungswesens, die einherging mit der heute, im Zeichen von „Bologna“, abgeschlossenen Ersetzung der mündige Bürger erziehenden Allgemeinbildung durch arbeitsmarktkonforme „Spezialkompetenz“, identifiziert Köhnke die im Deutschen Reich seit 1871 rasant fortschreitende Entwicklung der arbeitsteiligen Industriegesellschaft. Deren Resultat sei die „Fragmentierung der Kultur“ gewesen. Das in der Goethezeit entstandene ästhetisch-historische Bildungssystem, so zitiert Köhnke den wilhelminischen Philosophen Wilhelm Windelband, „das lange Jahrzehnte hindurch unserem Volke den einheitlichen inneren Halt und die Gemeinschaft der geistigen Nationalität gegeben“ habe, war damit um 1900 „sichtbar beschädigt“; die „Einheit der Kultur“ zur Disposition gestellt nach diesem, wie Köhnke ergänzt, „tiefgreifendsten Traditionsbruch in der Bildungsgeschichte Deutschlands, den es [vor 1968!] überhaupt je gegeben hatte“.

Die „Fragmentierung der Kultur“ sei daher das wesentliche Charakteristikum der Moderne. Dazu zähle auch das ab 1890 zu registrierende Aufkommen strikt anti-moderner Bewegungen, für die sich im Begriff der Moderne alles negativ damit Besetzte bündelt: Demokratie, Liberalismus, Entwurzelung, Verlust des Glaubens und des „Eigentlichen“. 

Köhnke aktualisiert nur selten und bekommt daher den bundesdeutschen Abgrund der „Fragmentierung der Kultur“ nicht in den Blick, auf den die Lemminge des Multikulturalismus seit der Jahrtausendwende zueilen. Stattdessen begnügt er sich mit dem fatalistischen Diktum, „Leitkultur“ lasse sich gegen die Dynamik von Wirtschaft und Technik nicht mehr „künstlich erzeugen“.

Als „Lehre aus der Geschichte“ klingt das, bei aller Brillanz dieser historisch tiefschürfenden Analysen, doch recht kümmerlich und bleibt weit hinter den Möglichkeiten zurück, die die Reflexionskultur des Kaiserreichs geboten hätte, um die geistige Lage kurz nach der Wiedervereinigung zu beleuchten.

Gescheitert ist Köhnke dabei aufgrund seiner autistisch anmutenden Fixierung auf zwei maßgeblich von ihm als Editor und Exeget revitalisierte, in der „verschweizerten“ (Christoph Steding) Berliner Republik gierig rezipierte Kulturphilosophen aus dem  „Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen“ (Carl Schmitt), Georg Simmel und Ernst Cassirer. Den Vergleich mit einem Diagnostiker der modernen Kultur vom Kaliber des Historikers Rolf Peter Sieferle („Epochenwechsel“, 1993/2017) hält diese in der machtfernen Innerlichkeit des „weltoffenen“ bundesdeutschen Biedermeier erblühte Modernetheorie daher nicht aus. 

Klaus Christian Köhnke: Begriff und Theorie der Moderne. Vorlesungen zur Einführung in die Kulturphilosophie 1996–2002. Aus dem Nachlaß herausgegeben von Jörn Bohr, Verlag Karl Alber, Freiburg/München 2019, 421 Seiten, 39 Euro