© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 12/21 / 19. März 2021

Deutsche Politik im Würgegriff des Fundamentalismus
Koste es, was es wolle
Reiner Osbild

Was ist Funda-mentalismus? „Fundamentalismus bedeutet die Handhabung bestimmter Erkenntnisansprüche als allem Zweifel entzogen und daher außerhalb jedes Dialogs angesiedelt.“ So definiert der Brockhaus eine Denkrichtung, die wir gerne religiösen Fanatikern zuordnen, nicht aber in unserer Politik vermuten. Das ist grundfalsch: Beginnend mit einer Euro-Rettungspolitik, die als „alternativlos“ vorgestellt wurde, hat die Regierung seither immer mehr Entscheidungen einer echten öffentlichen Diskussion entzogen – das schmerzlichste Beispiel ist die Corona-Politik.

Fundamentalistische (Wirtschafts-)Politik ist dadurch gekennzeichnet, daß sie höchste und endgültige Ziele bedingungslos ansteuert, alle Zielkonflikte dieser höchsten Werte mit anderen Werten oder Zielen ignoriert, sich keinen Deut schert um direkte und indirekte Kosten, die eigene Rolle, Verantwortung und Solidarität überbetont und überschätzt.

Die vielen Opfer anderer Krankheiten, die steigende Suizidrate, die Existenzängste von Unternehmern und ihrer Mitarbeiter, die seelischen Folgen für die Kinder, werden hingenommen, ohne daß auch nur eine Diskussion über die Zielkonflikte erfolgte. 

Es begann mit der Rettung Griechenlands, die als notwendig und, wie gesagt, „alternativlos“ verkauft wurde. Kanzlerin Angela Merkel sagte ferner: „Scheitert der Euro, dann scheitert Europa.“ Das Ziel „Erhalt der Eurozone“ wurde damit metaphysisch überhöht. Es ging plötzlich um die Rettung Europas als Wertegemeinschaft, um die Wahrung des Friedens, die Sicherung des Wohlstands: eine implizite, unzulässige Gleichsetzung mit einer schnöden Währungsunion.

In diesem Zusammenhang wurde oftmals betont, der Friede in Europa sei ein hohes Gut, für das jeder Mitteleinsatz recht sei. Indes ist weder historisch noch aktuell ein Beispiel bekannt, daß eine Währungsunion oder ihre Auflösung einen Krieg ausgelöst hätte. In der Sprache der Ökonomen ist der Friede ein öffentliches Gut, von dem alle profitieren; somit ist es unlogisch, daß dafür nur einer bezahlen sollte.

Zielkonflikte und Kosten wurden weithin ausgeklammert. Der Zielkonflikt mit den Regelwerken von Maastricht und Lissabon, die die Übernahme der Schulden eines anderen Euro-Landes verbieten, wurde nicht thematisiert; statt dessen wurden diese Verträge bewußt gebrochen. Die Interessen der deutschen Sparer und Steuerzahler kamen im Rettungsrausch ebenfalls unter die Räder – meinen Schätzungen zufolge wurde bereits ein volkswirtschaftlicher Verlust von rund vier Billionen Euro aufgetürmt, der durch Arbeitsplatzeffekte in den Exportindustrien bei weitem nicht wettgemacht werden kann. Die Attitüde, Deutschland müsse praktisch im Alleingang die Eurozone retten, wurde immerhin relativiert durch Beiträge einiger kleinerer Mitgliedsstaaten wie Österreich und die Niederlande sowie die expansive Geldpolitik der Europäischen Zentralbank, die meines Erachtens ebenfalls vertragswidrig ist.

Noch extremer ist der deutsche Fundamentalismus in Sachen Energiewende. Obwohl Deutschland nur rund zwei Prozent der CO2-Emissionen weltweit verursacht und im Zuge der Wiedervereinigung die angeblich schädlichen Emissionen bereits um rund ein Drittel reduziert hat, tut die Regierung auf gleich mehreren Feldern so, als könne sie im Alleingang das Weltklima retten. Eine unglaublich teure Förderung der regenerativen Energien – die Schätzungen reichen von rund 520 Milliarden Euro bis 2025 bis hin zu über einer Billion Euro in den Folgejahren –, die anstehende Abschaltung der etwa 100 Kohlekraftwerke (während in China circa 1.400 in Planung oder Bau sind), die sinnlose Zerstörung der deutschen Automobilindustrie zugunsten einer E-Mobilität, die nur auf dem Papier umweltfreundlich ist – das ist Fundamentalismus pur.

Dabei gilt, fast noch mehr als für den Frieden in Europa: Das Weltklima ist ein öffentliches Gut. Wenn nur ein Land es „rettet“, während andere Länder weitermachen wie bisher oder auf weitgehenden Sonderrechten beharren, dann wird dieses eine Land – Deutschland – einen immensen Schaden in Form von geringeren Einkommen und weniger Arbeitsplätzen haben, ohne daß dem Weltklima geholfen wäre. Der dänische Statistiker Björn Lomborg, der übrigens die These des menschgemachten Klimawandels teilt, schätzt, daß der immense deutsche Mitteleinsatz für die erneuerbaren Energien den Anstieg der Erdtemperatur um gerade einmal 18 Tage (!) hinauszögert.

Fundamentalistisch auch die Migrationspolitik. Sie verursacht immense Kosten in Höhe von rund 900 Milliarden Euro in dieser Generation. Hier wollen wir nur die alternativen Möglichkeiten des Mitteleinsatzes beleuchten: Mit Hilfen vor Ort, etwa in puncto Ernährung, Schul- und Berufsausbildung, hätte man leicht hundertmal so vielen Menschen helfen können mit dem gleichen Geld. Selbst die Einwanderer, die oft drei- bis sechstausend Euro an ihre Schlepper bezahlen, hätten die Not vieler Menschen in ihrer Umgebung mildern können oder für sich und ihre Familien ein Stück Land kaufen können. Die Armut in der Welt durch Einwanderung zu bekämpfen ist etwa so, als würde jemand am Anfang der Fußgängerzone ein Bündel Geldscheine in die Luft werfen und behaupten, den Bettlern sei damit am besten geholfen.

Das letzte Glied in der Kette ist die unselige Corona-Politik. Der Fundamentalismus Merkelscher Prägung ist gekennzeichnet durch die erdrückende Dominanz eines einzigen Zieles, der Verlängerung der Lebenserwartung eines jeden noch so alten oder schwer vorerkrankten Menschen. Das allein wäre nicht zu beanstanden, würden dafür nicht unzählige Grundrechte zum Teil willkürlich eingeschränkt. Die vielen Opfer anderer Krankheiten, die zunehmende Suizidrate, die Existenzängste von Unternehmern und ihrer Mitarbeiter, die psychischen Folgen für die Kinder hierzulande und die Not der Kinder in ärmeren Ländern, die aufgrund der Maßnahmen Einkommen und Leben verlieren, werden hingenommen, ohne daß auch nur eine Diskussion über die Zielkonflikte erfolgte.

Auch die in Euro meßbaren Kosten sind immens, abzulesen aus einer horrenden Zunahme der Staatsverschuldung, von den sich anbahnenden Insolvenzen ganz zu schweigen. Der Konflikt mit dem Recht manifestiert sich in einer Reihe von Urteilen, die das Außerkraftsetzen verschiedener Grundrechte tadeln beziehungsweise die Begründung der Verhältnismäßigkeit einfordern.

Die Wahl der Mittel ist eher krude, denn außer Lockdowns fällt den Machthabern nicht viel ein. Kein Wunder, werden alternative Antworten auf die Krankheit, die als Pandemie bezeichnet wird, doch einfach zensiert und gelöscht, die aufmüpfigen Personen diffamiert und aus der Entscheidungsfindung entfernt, wie jüngst Professor Christoph Lütge aus dem Ethikrat des Freistaates Bayern. Die Studie eines Teams um den Mediziner und Epidemiologen John Ioannidis von der kalifornischen Stanford-Universität, wonach Lockdowns wenig bringen, wurde weitgehend ignoriert. Vor wenigen Tagen nun erschien in der Zeitschrift Nature die Studie eines Wissenschaftler-Teams aus Brasilien, das keinen Zusammenhang zwischen der Isolierung zu Hause und der Verbreitung des Virus finden konnte; es ist zu befürchten, daß auch diese Erkenntnisse untergehen werden.

Was nun, wenn sich die fundamentalistischen Ziele gegenseitig in die Quere kommen? Nun, Klimaschutz geht vor, denn trotz der absehbaren Wirtschaftskrise und steigender Arbeitslosenzahlen wurde die CO2-Steuer nicht etwa aus-,

sondern umgesetzt. Mehr noch, die Corona-Krise ist Brandbeschleuniger für den großen „Reset“, mit dem eine sozialistisch geprägte Klimawirtschaft die herkömmliche Marktwirtschaft anscheinend ersetzen soll.

Migration geht ebenfalls vor, denn wir hatten über 100.000 Asylerst­anträge auch im Jahr 2020. Während die Binnenmobilität eingeschränkt wurde, waren Einreisen nach Deutschland weithin möglich. Auch Europa geht vor Gesundheit, denn schließlich wurde die EU-Kommission mit der Aufgabe der Impfstoffbeschaffung betraut, woran Ursula von der Leyen gewohnt routiniert scheiterte. Corona befeuerte geradezu den Europa-Furor der Kanzlerin, legte sie doch im vergangenen Sommer in Brüssel ein Paket auf den Tisch, welches im laufenden Siebenjahreszeitraum noch einmal rund 400 Milliarden deutscher Steuergelder nach Brüssel verschachert – ein Großteil davon als Corona-Hilfe getarnt. Eine gemeinschaftliche Verschuldung wurde auf den Weg gebracht, die Vergemeinschaftung der Fiskalpolitik ist in vollem Gange.

Trotz des medialen Trommelfeuers in Sachen Corona sind – gemessen an den Taten der deutschen Regierung – Europa, Migration und Klima bedeutsamer als die Gesundheit. Sogar der Datenschutz geht vor: Das ist jedenfalls die Lektion aus dem kläglichen Scheitern der Nachverfolgungs-App. Einige asiatische Länder haben vorgemacht, wie es geht, doch in ihrer merkwürdigen Melange aus Größenwahn und Provinzialismus haben die hiesigen Machthaber deren Erfahrungen in den Wind geschlagen.

Die Fähigkeit unserer Gesellschaft, Fehlentwicklungen aufzuspüren und frühzeitig gegenzusteuern, sinkt dramatisch. Die Corona-Mutante, die die offene Gesellschaft, die Freiheit und die Grundrechte bedroht, ist die gefährlichste und schon mitten unter uns.

Fundamentalismus geht schnell in Totalitarismus über. Dann verliert eine offene Gesellschaft ihre Fähigkeit zur Selbsterneuerung. Friedrich von Hayek, Nobelpreisträger anno 1974, beschrieb Märkte als Entdeckungsverfahren, in dem neue Produkte und Verfahren im Zuge eines freien Wettbewerbs gefunden werden. Auch der politische Wettbewerb hat die Funktion, neue oder bessere Lösungen für bestehende Problemlagen zu finden. Wird er beschränkt oder behindert oder verengt auf die (nachträgliche) Rechtfertigung des Handelns der Machthaber, so begibt sich eine offene Gesellschaft der Fähigkeit, Fehlentwicklungen aufzudecken und zu korrigieren.

Die Wissenschaft spielt eine entscheidende Rolle: Ist sie frei und befreit von Fesseln und Tabus, um neue Wege zu erkunden und ihre Stimme in einen ergebnisoffenen Prozeß einzubringen, oder ist sie dermaßen abhängig von der Politik und ihren Geldern, daß sie zur Rechtfertigungsagentur für alles und jedes degeneriert? Parallel dazu wäre das Selbstverständnis der großen Medien und Internet-Plattformen zu hinterfragen.

Die offene Gesellschaft, die freie Debatte, die unabhängige Wissenschaft sind Todfeinde des Fundamentalismus. Das wissen die Fundamentalisten und müssen daher jede auch nur ansatzweise freie Diskussion tabuisieren, unangenehme Gegenpositionen diskreditieren, kritische Geister ins Abseits stellen. Daß man hierzu das Instrumentarium eines Netzwerkdurchsetzungsgesetzes geschaffen hat, daß man mit zumeist US-amerikanischen Netz-Oligopolisten zusammenarbeitet, um mißliebige Beiträge zu eliminieren, ist bereits eine kaum zu ertragende Einengung der Freiheit.

Der Preis dafür geht über die hohen monetären Kosten hinaus: Die Fähigkeit unserer Gesellschaft, Fehler oder Fehlentwicklungen aufzuspüren und frühzeitig entgegenzusteuern, sinkt dramatisch. Die Corona-Mutante, die die offene Gesellschaft, die Freiheit und die Grundrechte bedroht, ist die weitaus gefährlichste, und sie ist schon mitten unter uns.






Prof. Dr. Reiner Osbild, Jahrgang 1962, hat den Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre an der Hochschule Emden/Leer inne. Von 2012 bis 2015 lehrte er Volkswirtschaft an der privat geführten SRH-Hochschule Heidelberg. 2010/11 war er für ein Jahr Gastprofessor in Dalian (VR China). Zuvor arbeitete er im Kapitalmarktgeschäft großer deutscher Geldhäuser. 1993 wurde Osbild mit einer Arbeit zum Thema „Staatliche Eingriffe in den Arbeitsmarkt“ promoviert. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über die Wirtschaft nach der Corona-Krise („Dem Markt die Freiheit!“, JF 19/20).

Foto: Einer propagiert Ziele, andere müssen die Lasten tragen: Die Politik ignoriert Zielkonflikte