© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 13/21 / 26. März 2021

Asozial distanzlos
Werbe- und Medienschaffende installieren eine neue Duzkultur. Sterben Höflichkeit und Etikette aus?
Dietmar Mehrens

Liebe Nachbarn. Für eure Gesundheit“, leitet ein Geschäft des Supermarktriesen Penny seine Aufforderung zum Maskentragen beim Eintritt in das Geschäft ein. Auf einem Plakat über dem Eingang wirbt Penny um Arbeitskräfte im Verkauf: „Das ist jetzt dein Job!“ Die Konkurrenz von Netto möchte sich im direkten Vergleich nicht als lahmer Spießer abhängen lassen und fordert seine Kunden per Aushang auf: „Haltet ausreichend Abstand zueinander.“ Und die Frankfurter Direktbank Ing-Diba mischte sich zum Jahreswechsel sogar noch drastischer in das Privatleben ihrer Kunden ein: „Feiert anders, aber feiert schön“, mußte sich belehren lassen, wer sich im Dezember auf der Webseite der Bank zum Online-Banking anmelden wollte. 

Im öffentlichen Raum ist das große Duzen ausgebrochen. Ein Sittenverfall, den man im ironischen Rückgriff auf Wortschöpfungen jüngeren Datums am treffendsten wohl als asoziale Distanzlosigkeit bezeichnet. Daß die Generation 50plus nicht zur werberelevanten Zielgruppe gehört, daß Werbung inhaltlich und gestalterisch auf ein eher jugendliches Publikum zugeschnitten ist, daran hat man sich gewöhnt. Die neue Duzwut jedoch irritiert. Sie bricht mit elementaren Höflichkeitsstandards.

Werden Deutschlands Werbeschaffende von den Chefetagen auf das Duzen eingeschworen? Das nicht, meint Ralf M., Grafik- und Produktdesigner bei einer Hamburger Agentur, es sei eben ein Trend derzeit. „Das ist aus den skandinavischen Ländern zu uns rübergeschwappt, weil die da kein Sie kennen. Oder auch aus dem Englischen.“

Ganz ohne Zweifel spielt neben Ikea auch das Internet eine wichtige Rolle. In den sozialen Netzwerken ist das Distanz wahrende Sie verpönt. Niemand möchte sich selbst das Attest ausstellen, „uncool“ zu sein. Und: Migranten, die am stärksten wachsende Kundengruppe hierzulande, tun sich mit dem Sie schwer. Ein Pendant zu der höflichen Anrede fehlt im Arabischen. 

Vollends absurd wird es, wenn dieselben Sendeanstalten, die den Umschwung zum ideologiekonformen „gendergerechten“ Sprechen mit dem Bemühen um eine „wertschätzende Sprache“ rechtfertigen, bei diesem Etikettenschwindel mitmachen. In der auch bei Älteren beliebten Bundesligashow des NDR hat der Moderator neuerdings „die Ergebnisse für euch“. Auf Rückfrage erläutert die Redaktionsassistenz: „NDR 2 ist für die Menschen […] ein sympathischer Tagesbegleiter, fast ein guter Freund.“ Deshalb erscheine der Anstalt „diese Form der Ansprache einfach passender“.

2004 warnte der ZDF-Redakteur und Publizist Peter Hahne in seinem Bestseller „Schluß mit lustig!“ davor, die Alten in der Gesellschaft respektlos zu behandeln. Mit Blick auf das Geburtendefizit der Deutschen sagte er voraus: „Ohne die Wertschätzung der Älteren wird es nicht gehen. Die Jahre des Jugendkults sind bald vorbei. Im Arbeitsleben der Zukunft wird die reife Generation den Ton angeben.“

Ältere Menschen biedern sich bei Jüngeren an

Anderthalb Jahrzehnte später darf man bilanzieren: Es ist nicht alles so eingetreten, wie von dem einstigen ZDF-Frontmann vorhergesagt. Jugend hat man mittels Massenmigration importiert, und die Älteren mögen zwar den Ton angeben, sie kultivieren jedoch nicht das Bild der grauen Eminenz, der Altersmilde, der intellektuellen Reife oder irgendeiner anderen Form von Würde, die nur der älteren Generation zusteht, sondern biedern sich hemmungslos bei den Jüngeren an.

Wer das achte Lebensjahrzehnt erreicht hat, sieht heute nicht mehr aus wie Carl-Heinz Schroth und Brigitte Horney in der ZDF-Serie „Jakob und Adele“ aus den Achtzigern, sondern wie Thomas Gottschalk und Senta Berger. Ihr Erscheinungsbild löst fast reflexhaft die Frage aus: „Was, so alt sind die schon?“ Es liegt wohl daran, daß diejenigen, die während der Studentenunruhen Ende der Sechziger jung waren und gegen den Muff von tausend Jahren auf die Straße gingen, kein Bild von sich ertragen, das sie gedanklich in die Nähe derjenigen Alten rückt, die damals als Feindbild herhalten mußten.

In die Unmündigkeit zurückführen

Ein gutes Klima also für Kindereien, die auf neutrale Beobachter auf den ersten Blick lächerlich wirken und auf den zweiten manisch. Ein Mann dieses zweiten Blicks ist Alexander Kissler, der Autor von „Die infantile Gesellschaft“ (JF 43/20). Die neue Duzwut ist für ihn ein Symptom unter vielen. Besonders im Blickpunkt steht dabei natürlich Greta Thunberg, die Ikone des neuen Infantilismus. Die messianische Aura, die die „Fridays for Future“-Rädelsführerin in der medial vermittelten Wahrnehmung bereits umgibt, beweist: Hahne irrte. Der Jugendkult hat nicht nur nicht ausgedient, er ist geradezu ausgeartet: Die eher metaphorische Verehrung der Jugend hat sich zu quasi-religiöser gesteigert.

Auch die 22jährige Poetry-Slammerin Amanda Gorman, die nach dem Vortrag eines pathetischen, sprachlich medio-kren Gedichts anläßlich der Amtseinführung von Joe Biden von linken Medien so hochgeschrieben wurde, daß sie an einer Nominierung für den Literaturnobelpreis wohl nur knapp vorbeigeschrammt ist, läßt sich als Beispiel anführen. Kissler attestiert der Gesellschaft, die sich so verführen läßt, einen Gestus der Verdrängung, gepaart mit Überheblichkeit. Die Auseinandersetzung mit der Hinfälligkeit der eigenen Existenz wird auf einen späteren Zeitpunkt verschoben. Sicher auch eine Erklärung für die beträchtliche Panikattacke, die die westlichen Gesellschaften mit dem Ausbruch der Covid-19-Seuche erlitten.

Ein weiteres Symptom ist die Gefühligkeit, die zur Derationalisierung der Debatten führt. Beispiel Kernkraft: Wo eine Technologie nur negative Gefühle auslöst, ist für eine sachliche Diskussion über Möglichkeiten der CO2-Reduktion kein Raum. Ein Produkt kindlicher Sentimentalität ist auch der Begriff „Klimarettung“, der den falschen Eindruck erweckt, das Klima sei, wie Blauwal, Breitmaulnashorn oder Luchs, eine vom Aussterben bedrohte Art. Ein Begriff wie gemacht für intellektuell Unmündige, die an die Verarbeitung plakativer Bilder gewöhnt und mit dem Erfassen komplexer Zusammenhänge überfordert sind.

Eine tolle Idee, wie Konsum und Weltrettung sich endlich miteinander aussöhnen lassen, hatte die Drogeriekette Budnikowsky: Eine kindergartentaugliche Kennzeichnung zeigt an, welche Produkte einen „positiven Beitrag“ leisten. Und damit auch der Dümmste es kapiert, fordert ein Plakat den Kunden kindgerecht auf: „Achte auf das blaue Preisschild. Denn so kaufst du verantwortungsvoller ein.“ 

Während Kant den Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit postulierte, scheint die Bundesrepublik ihre Bürger jetzt in die Unmündigkeit zurückführen zu wollen. Das Schöne an Kindern ist ja, daß sie nicht alles kritisch hinterfragen und sich schnell begeistern lassen. Der Pandemie-Paternalismus der letzten zwölf Monate paßt da blendend ins Bild. Degeneriert die Zivilgesellschaft zur Primitivgesellschaft?

Auf Kritik reagiert mancher Duzer überfordert und verstört. Das Berliner E-Roller-Unternehmen Unumotors, das im Kundenverkehr konsequent duzt, antwortete auf eine kritische Rückfrage: „Ihren Feedback werde ich direkt intern weiterleiten, um dies bei weitere Kommunikation zu betrachten.“ Die Grammatik war futsch, aber das plumpe Du immerhin auch.

Die größte Ironie dürfte darin bestehen, daß die neue Duzkultur in krassem Gegensatz zur Covid-bedingten Forderung nach sozialer Distanzierung steht. Aber vielleicht ist Distanzlosigkeit in Fragen der Etikette ja so eine Art Entschädigung für all das, was neuerdings untersagt ist: War das große Knuddeln bisher auf den engsten Familien- und Freundeskreis beschränkt, darf sich zumindest verbal nun jeder unterschiedslos auf den Arm genommen fühlen.