© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 15/21 / 09. April 2021

Dorn im Auge
Christian Dorn

Der Blick in den Tagesspiegel verrät uns: Uns bleibt nur eine Gnadenfrist, bevor das identitätspolitische Fallbeil unter dem Beifall der „Cancel Culture“-Kaste erneut niedersaust. Im Interview mit den Woke-Werktätigen – hier den Redakteuren Sidney Gennies und Julia Prosinger – übt sich SPD-Politiker Wolfgang Thierse in bewundernswerter Eselsgeduld, die jakobinischen Wort-Wächter vor dem identitätspolitischen Irrweg zu warnen. Doch vor der revolutionären Ungeduld der uneinsichtigen Diskurshüter muß schließlich auch er kapitulieren, kleinmütig schließt er: „Ich wünsche mir, daß man dem ‘gemeinen Volk’ ein bißchen Zeit läßt.“ Hier gilt es schon mal den globalen Merksatz zu memorieren: „A smart kind of norming / Sudden deplatforming.“


Um die individuelle Restlaufzeit geht es auch Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, meldet der Deutschlandfunk. Laut Spiegel hat er einen restriktiven Vorschlag für eine Neuregelung des Sterbehilferechts ausarbeiten lassen. Suizidassistenz soll demnach grundsätzlich unter Strafe stehen. Übertragen auf das Gemeinwesen hieße das, Merkel sofort das Handwerk zu legen. Bewahrheitet sich doch ihre ostentative Absichtserklärung („Wir schaffen das“) als explizites Bekenntnis. Immerhin wurde sie bereits 2017 vom damaligen SPD-Kanzlerkandidaten für einen „Anschlag auf die Demokratie“ verantwortlich gemacht, da sie sich vor inhaltlichen Auseinandersetzungen drücke. Nur so läßt sich erklären, daß sie die Warnung durch das Werk Thilo Sarrazins („Deutschland schafft sich ab“) als „nicht hilfreich“ abgekanzelt hatte. Wo aber Gefahr ist, so wissen wir seit Hölderlin, wächst das Rettende auch. Gemäß der frohen Osterbotschaft vom auferstehenden Leben rufen wir der Regentin zu: „Angela, wir schaffen dich!“


Vielleicht erschaffen wir auch eine Diktatur. Immerhin fordern nach einer jüngsten Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov im Auftrag der Deutschen Presse-Agentur knapp zwei Drittel der Deutschen ein Verbot von Urlaubsreisen ins Ausland. Währenddessen beginnen die Nachrichtenmeldungen überall mit den neuesten Inzidenz- und Todeszahlen. Das erinnert an die Frontberichte im Volksempfänger. Die Parole laute heute: „Testen, Testen, Testen / Nichts Neues im Westen.“ Erst der „vollständig geimpfte Bürger“ (Spahn) wird wieder seine vollen Rechte genießen, solange er gut darauf achtet, was er sagt, denn: „Du ängstigst dich vorm China-Virus? / Zu spät! Das ist bereits Rassismus.“