© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 15/21 / 09. April 2021

Der Flaneur
In der Echokammer
Paul Leonhard

Ohhh“, hallt es plötzlich durch den Bahnhof aus Kaiserszeiten; dann: „Ihhh, ahhh, uhhh.“ Da testet einer alle Vokale aus. Mir kommt der Kinderreim in den Sinn: „A, E, I, O, U – ein Esel ist so klug wie du.“ Aber es ist kein Kind, das hier Vokale lernt, sondern ein ausgewachsener Mann. Einer von jenen, die nachts in den Bahnhöfen der Städte herumlungern. „Hohoho“, macht er jetzt. Und die Halle wird zur Echokammer.

Erneut laut geschriene Vokale. Alle fühlen sich jetzt gestört, die Lesenden, Handyspielenden, Träumenden. Sie recken die Hälse, suchend nach der Quelle dieser Laute. Der Rufer freut sich über die Resonanz. Er verbeugt sich in die Runde: „Johooo.“ Drei andere Penner gesellen sich dazu. Aber es wird kein Chor, sondern ein in polnischer Sprache ausgetragener Erfahrungsaustausch.

Die Verstärkung kommt angelaufen, doch draußen geht die Krakeelerei weiter.

Wenigstens keine Rufe mehr. Die Penner kontrollieren, ihren intensiven Geruch verbreitend, die Papierkörbe nach Pfandflaschen und Eßbarem. Dann wieder mehrere „Juhohaaaah“. Jetzt endlich marschieren sie nebeneinander heran: drei Männer in gelben Warnwesten, die Arme abgespreizt mit bösen Mienen. „Haut ab“, schreien sie schon auf zwanzig Meter Entfernung: „Verschwindet, sonst Prügel.“

Aber die polnischen Penner kennen ihre Rechte. Sie lassen sich abdrängen, aber nicht anfassen. Schließlich ist das hier Deutschland und nicht ihre Heimat. „Raaauuus“, echot der Rufer lautstark. Seine drei Kompagnons lauschen anerkennend. Die DB-Bahnsicherheit fühlt sich veralbert. Zwei Sicherheitsmänner müssen ihren dritten Mann mit Gewalt zurückhalten. Der greift schließlich zum Handy und ruft Verstärkung: drei Bundespolizisten. Im Laufen ziehen sie sich Handschuhe über. An den drei Ausgängen steht ihnen je einer der Penner gegenüber. Welcher ist der Rufer? Sie kontrollieren alle drei, dann ertönt es hinter ihnen: „Buuuuhuuu!“ 

Die Beamten nehmen den Vokalisten in den Polizeigriff und führen ihn auf den Bahnhofsvorplatz. Dort geht die Krakeelerei weiter, ohne Echo.