© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    02/98 02. Januar 1998

 
 
Die Methoden der neuen Inquisition
von Alain de Benoist

Man sieht, daß die derzeitige Gesellschaft dem Pluralismus nur am Beginn Lobreden hält, um ihn am Ziel einfach verschwinden zu lassen. Man sieht außerdem, daß eine bestimmte Linke, die gestern noch der bürgerlichen Gesellschaft streitbar gegenüber gestanden hat und deren moralische Ordnung kritisiert hat, heute zur Vorkämpferin des politischen Reformismus und des moralischen Konformismus wird, weil ihre Parolen so sehr zu Allgemeinplätzen geworden sind, daß sie auf nichts mehr passen.

Das ist ein merkwürdiges Phänomen, das über den eingeschlagenen Weg nachdenklich stimmen sollte. Es war Mut nötig, um in Südafrika in Zeiten der Apartheid die Rassentrennung anzuklagen, im Frankreich vor dem Zweiten Weltkrieg gegen den Kolonialismus zu sein und sich in Frankreich während der Besetzung gegen den Hitlerismus mit der Waffe in der Hand zu wehren. Aber worin besteht dieser Mut heute? Im Jahre 1997 riskiert der Widerstand gegen den Nazismus nichts, höchstens die eigene Lächerlichkeit. Und die Schlagworte, die gestern für ihre Autoren Gefängnis oder Tod bedeuten konnten, sind heute Zaubersprüche der Prinzipien, Produzenten des guten Gewissens und gleichzeitig Fahrkarten in die Welt der Medien und der Verlage. Angesichts von Ideen, die nur deshalb Ausdruck des Zeitgeistes sind, weil man sie ohne Risiko sagen kann, erweckt ein solcher Mut wahrlich keine Bewunderung.

Zensur hat es zu allen Zeiten gegeben und der Hang zur Intoleranz ist einer der Bestandteile des menschlichen Geistes. Es hat in der Vergangenheit stets dominante Ideologien gegeben und alle Regierungen haben es sich, bis zu einem unterschiedlichen Grad, angelegen sein lassen, die Gesellschaft zu vereinheitlichen und nonkonforme Meinungen zu ersticken. Daß die Zensur heute dazu zurückkehrt ist deshalb so entlarvend, weil sich diese Rückkehr in einer Gesellschaft vollzieht, die vorgibt, die Freiheit der Meinungsäußerung anzuerkennen und zu garantieren. Artikel 11 der Erklärung der Menschenrechte erklärt den freien Austausch von Ideen und Meinungen zu den kostbarsten Menschenrechten. Das französische Gesetz über die Pressefreiheit vom 29. Juli 1881 proklamiert in seinem ersten Artikel: "Druck und Buchhandlungen sind frei." Aber das ist nicht mehr wahr. Während in den meisten von der Sowjetmacht befreiten Ländern des Ostens die Rede ganz frei ist, während in den USA das "First Amendment" der amerikanischen Verfassung die freie Äußerung aller Meinungen erlaubt, ist Frankreich heute, wohl zusammen mit Deutschland, dasjenige Land der westlichen Welt, in dem die Freiheit der Meinungsäußerung faktisch am ernstesten eingeschränkt ist.

"Keine Freiheit für die Feinde der Freiheit". Das ist ein altes Lied, das schon immer die Frage aufgeworfen hat, wie man denn Freiheit definiert und vor allem, wer die Fähigkeit haben soll, festzulegen, wer der Feind denn sei. Als im 19. Jahrhundert die revolutionären Sozialisten die soziale Ausbeutung angeprangert haben, wurden sie wegen "Aufstachelung zum Haß" vor die Gerichte gebracht. Heute tut man das gleiche bei denen, die sich nicht niederwerfen vor der Ideologie der Menschenrechte. Die Freiheit der Meinungsäußerung beschränke sich, wenn man einigen Leuten glaubt, auf tolerierbare Meinungen. Aber genau da fängt sie erst an; und es sind immer diejenigen gewesen, die sich für sie geschlagen haben, damit sie triumphieren konnte, die diese Freiheit definiert haben. Die Meinungsfreiheit hätte keinen Wert, wenn nur diejenigen davon profitieren könnten, die Meinungen verbreiten, die jedermann als richtig und vernünftig bewerten würde. Weil sie die erste Voraussetzung ist für die freie Entwicklung der Ideen und damit für das Bestehen einer demokratischen Debatte, hat die Meinungsfreiheit, im Gegenteil, nur dann einen Sinn, wenn auch die schockierendsten und beleidigendsten wie die unzutreffendsten oder absurdesten Meinungen ebenso von ihr profitieren. Und zwar aus dem einfachen Grunde, weil, wenn dies nicht der Fall wäre, die Proklamation ihres Prinzips niemals notwendig gewesen wäre.

Die Wahrheit ist, daß die Meinungsfreiheit unteilbar ist, daß sie aufhört zu existieren, wenn man ihr bestimmte Grenzen setzt. Die Wahrheit ist, daß die Zensur intolerabel ist, welche Motive sie auch immer haben mag, welche Identität auch immer die Opfer dieser Freiheit haben und unter welchen Voraussetzungen sie auch immer ausgeübt wird. Keine Zensur ist intellektuell zu verteidigen und keine ist im übrigen auch wirkungsvoll. Heutzutage werden diejenigen, die die Zensur verurteilen, angeklagt, Komplizen der Zensierten zu sein. Diese Anklage in der Form einer Erpressung ist ebenfalls intolerabel. Unter den Ideen, die heute einem Verbot unterliegen, gibt es sicher solche, die verabscheuungswürdig oder absurd sind. (Das Drama ist, daß man auch das nicht mehr sagen kann, aus Angst, mit den Wölfen zu heulen). Aber wenn es verabscheuungswürdige Meinungen gibt, dann sind die Gesetze, die sie verbieten wollen noch verabscheuungswürdiger. Es handelt sich hier nicht so sehr darum, die Zensierten zu verteidigen als vielmehr darum, die Zensur anzugreifen.

Der McCarthyismus und das Sowjetsystem sind verschwunden, aber die Erben eines Schdanow oder eines McCarthy sind immer noch da. Noch unter Stalin oder McCarthy waren die Denunzianten bisweilen zur Denunziation gezwungen, um ihre Arbeit oder ihr Leben zu behalten. Heute sehen wir Denunzianten, die ihr Werk tun, ohne daß sie irgendetwas dazu verpflichten würde. Daß sie den Auswurf von Senator McCarthy essen, ekelt sie keineswegs. Sie sind ganz beschäftigt damit, schwarze Listen und Zettelkästen anzulegen, um Exkommunikationen auszusprechen und Bannflüche zu schleudern. Sie entrüsten sich über die Denunziationen, deren Opfer die Juden zur Zeit der deutschen Okkupation in Frankreich waren, aber indem sie ihrerseits heute diejenigen denunzieren, die die herrschende Ideologie auf den Index gesetzt hat, verhalten sie sich in der selben Weise. Alles das in einem Klima, das Cornelius Castoriadis sehr richtig als "Aufstieg der Belanglosigkeit" charakterisiert hat und das wohlgemerkt unter ausgezeichneten moralischen Vorwänden. In der allgemeinen Überwachungsgesellschaft, in der wir leben und die bereits über Mittel zur Kontrolle des öffentlichen und privaten Lebens verfügt, über die selbst totalitäre Regime nie verfügt haben, sind alle Motive gut genug, um an den Rand zu drängen, auszuschließen, zu marginalisieren.

Ich habe die tieferen Motive dieser unbestimmten Intoleranz genannt: das schlechte Gewissen der Büßer, die steigende Unkultur, die diejenigen, die nicht mehr die Mittel haben zu antworten und die zur Verleumdung treiben, anstatt zu widerlegen, schließlich die Angst einer Neuen Klasse, deren Mitglieder seit langem ausgewählt sind – und zwar nicht aufgrund ihrer tatsächlichen Fähigkeiten, sondern aufgrund ihrer Fähigkeiten sich auswählen zu lassen, allen objektiven Empfehlungen entzogen, abgeschnitten vom Volk, leben sie in ständigem Schrecken, daß sie ihre Posten und Privilegien verlieren könnten. Ich habe auch die Ziele der Zensur genannt: sie soll eine ganze Geistesrichtung herabsetzen, die nicht mehr das Recht auf eine Äußerung haben soll, Sündenböcke aufzustellen, um zu verhindern, daß man Rechenschaft über das Behauptete ablegen muß, die Aufmerksamkeit von den Deformationen im gegenwärtigen System abzulenken, die öffentliche Meinung mit einem Nasenring zu versehen und sie soll ein öffentliches Abschwören von allen bösen Gedanken zur Folge haben, als Voraussetzung von medialer und gesellschaftlicher Anerkennung.

Dieses System der Zensur wird solange dauern, wie es eben dauert. Nach meinem Gefühl wird es von selbst zusammenbrechen als Folge seiner eigenen Bewegung. Ein Tag wird kommen, an dem, wie man bereits zu sehen beginnt, den Denunzianten nichts mehr übrigbleiben wird, als sich selbst gegenseitig zu denunzieren. Aber wir, wir werden immer noch da sein.

Wir sind heute umgeben von Moralisten, die vorgeben, daß wir vor unserer eigenenUnwürdigkeit ächzen. Aber wir, wir haben nichts zu bereuen. Darum gibt es in unserem Lande, wie auch anderswo, eine Gruppe Intellektueller, die mutig genug ist, eine gemeinsame Initiative gegen die neue Inquisition durchzuführen; solange wir leben, werden wir fortfahren zu reden. Und so lange wir leben, werden wir fortfahren, abweichende Worte zu sagen und die Vorrechte des kritischen Denkens zu verteidigen. Ebenfalls so lange wir leben, werden wir fortfahren, an der Arbeit des Denkens mitzuwirken.

In einem Augenblick, in dem sich der Konformismus auf dem Höhepunkt befindet, handelt es sich einmal mehr darum, an die Vereinigung der freien Geister zu appellieren und an die rebellischen Herzen. Nieder mit der Zensur, meine Damen und Herren! Und es lebe die Freiheit!


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen