© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    02/98 02. Januar 1998

 
 
Pankraz, L. Wittgenstein und das Heimkommen im Internet

In einem "Jahresvorblick", den eine Zeitung dieser Tage veröffentlichte, las Pankraz die kesse Auskunft eines Lehrstuhl inhabenden Computer-Freaks, daß 1998 wohl "das endgültige Aus für traditionelle Datenspeicherung" einleiten werde. Die "digitale Revolution" sei voll in Fahrt gekommen und treibe unaufhaltsam auf die "Abschaffung des gedruckten Wortes" zu, auf die Ersetzung der Zeitung und schließlich auch des Buches durch den Bildschirm, auf die Ersetzung der alten, ruhmreichen Bibliotheken durch die Expertensysteme des Internet. Was ist denn davon zu halten?

Nun, Pankraz hält solche Prognosen, um es gemäßigt auszudrücken, für stark übertrieben. Dagegen steht schon die nach wie vor sperrige Beschaffenheit des elektronischen Informations-Designs, die den Verdacht nahelegt, daß die Elektronik, was "Design", Handlichkeit, angeht, dem gedruckten Wort prinzipiell unterlegen ist, daß es eine Art sinnlich-wahrnehmungspsychologische Hemmschwelle gibt, die den Menschen letztlich doch lieber zur Zeitung oder zum Buch greifen läßt, statt eine Kolonne von Kommandos in den Computer einzutippen und sich ins Internet einzufädeln.

Was aber die genuin philosophische Sichtweise betrifft, die sich ja bei feierlichen Jahres-Vor- und Rückblicken anbietet: Unser aller Plato hätte gesagt, es sei im Grunde völlig gleichgültig, ob einer im Buch oder auf dem Bildschirm lese, ob einer in die Bibliothek gehe oder sich ins Internet einschalte: beides sei gleichermaßen läppisches, verächtliches Krückenwesen im Vergleich zum lebendigen Dialog, der einzig verläßlichen und wahrhaft menschlichen Art von Kommunikation.

Sowohl Buch wie Internet, hätte Plato weiter gesagt, bauten auf dem "Bild" auf, denn auch der Buchstabe sei, bei aller symbolischen Verkürzung, eine Hieroglyphe, also ein Bild. Und jedes Bild sei eine Lüge oder zumindest eine Falschaussage. Niemals ließe sich im Bild ausdrücken, was alles in einem lebendigen Gespräch an Bedeutungen und Nebenbedeutungen mitschwinge, und so stifte Sehen und Lesen immer nur Mißverständnisse, manchmal sogar tödliche Mißverständnisse.

Es fällt ja tatsächlich auf, daß die größten Propheten und Weisheitsvermittler der Weltgeschichte, Buddha, Christus, Sokrates, kein einziges Wort selber aufgeschrieben haben. Gott schreibt nicht auf, sondern er spricht, mag sein aus dem brennenden Dornbusch oder manchmal auch durch ein Flammenzeichen an der Wand, aber er spricht.

Wenn freilich nichts aufgezeichnet würde, wüßten wir sehr viel weniger von Gott, und das sollte man immerhin auch berücksichtigen. Und was das Aufzeichnen betrifft, so gilt, daß alle ernsten Dinge als aufgeschriebene, in Buchstaben gefaßte, einer modern-digitalen Verbildlichung eminent überlegen sind.

Man beobachte doch nur einmal, wie hilflos das Fernsehen mit seiner Bilddominanz z.B. philosophische Themen umsetzt (wenn es sie denn je umsetzt). Die Buchstaben der Schrift mögen, als Hieroglyphen, ursprünglich Bilder gewesen sein, aber je mehr Bildhaftes sie abschliffen, je mehr sie sich zum abstrakten Symbol verkürzten, umso eindeutiger wurden sie. Ein schriftlicher Kontext ist in jedem Falle ehrlicher als ein Bild, seine Lüge ist leichter zu durchschauen als die Lüge eines Bildes, weil er gewissermaßen nicht mit der Tür ins sinnliche Haus fällt. Man muß immer nachbuchstabieren, was gemeint ist, und gewinnt schon dadurch Distanz und Gelegenheit zu gedanklichem Atemholen.

Natürlich, niemals kann man sich sicher sein, ob man den gemeinten Sinn auch wirklich geschnallt hat – aber in dieser Unsicherheit wird die Schrift zum Paradigma von Sprache überhaupt, auch von aktuell gesprochener Sprache. Der späte Wittgenstein hat sich bekanntlich mit der Frage herumgeschlagen, ob es eine Sprache geben könne, die prinzipiell nur von einem einzigen Menschen verstanden werden kann, eine "Privatsprache" also. Und seine mit aller Skrupulösität erfolgende Antwort lautete: "Nein".

Denn Zeichen, Bilder, Wörter, die ich nur für mich selbst schaffe, argumentierte er, entbehren nicht nur jeglicher Kommunikationsfähigkeit, sondern sie lassen auch mir in meiner privaten Sphäre keine Luft für ein in sich sinnvolles Sprachspiel. Ich muß mich ja immer, wenn ich das Privatwort gebrauche, genau an die Situation erinnern, in der ich das Wort geschaffen habe, verfüge aber über kein Kriterium für diese situative Genauigkeit.

Was nun aber für mich selbst und meine Privatsprache gilt, das gilt letztlich für die ganze Kommunikationsgemeinschaft. Auch sie verfügt über kein Genauigkeitskriterium der Erinnerung, muß sich im "Diskurs" immer wieder über den jeweiligen Bedeutungsspielraum der Wörter und Sätze verständigen. Wir verstehen unsere Sprache, unsere sogenannte Muttersprache, nicht. Sie ist ein Proteus, und die Logiker, die sie "genau machen", die sie kalkulisieren und voll verfügbar machen wollen, rennen ihr immer nur hinterher.

Andererseits ist uns die Sprache, wenn überhaupt, Heimat, nirgendwo fühlen wir uns so zu Hause wie in der Muttersprache. So also, meine Damen und Herren Leser von Jahresvorblicken, steht es mit der Sprache: Sie ist Heimat und Fremde zugleich, und aus dieser Verstrickung löst uns kein Buch und keine Zeitung, aber das Internet mit seinem Interslang schon gar nicht.

Mag sein, dieses Internet verkürzt und ermuntert die direkte Kommunikation, die notwendig ist, um in neuen (Sprach-)Verhältnissen heimisch zu werden; Bücher und stille Bibliothekssäle vereinzeln wohl eher. Doch dafür nötigen sie zu liebender Gründlichkeit beim Bedenken von Wortschöpfungen, machen die Kommunikation gediegener und ihre Resultate verläßlicher. So betrachtet könen sich Bibliothek und Internet geradezu ergänzen, statt sich gegenseitig auszuschließen. Hoffen wir, daß es wirklich so ist.


 
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