© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    02/98 02. Januar 1998

 
 
Vergessene Zeitgeschichte: Bundeswehr-Historiker Franz W. Seidler veröffentlicht wissenschaftliche Studie
Die Verbrechen an der Wehrmacht
von Hans-Peter Rissmann

Die Wanderausstellung "Verbrechen der Wehrmacht", die seitängerem quer durch den deutschsprachigen Raum zieht, hat von Anfang an einen Sturm der Entrüstung besonders unter ehemaligen und aktiven Soldaten und deren Angehörigen ausgelöst. Es gilt als unzweifelhaft, daß die Aussteller in höchstem Maße unwissenschaftlich vorgegangen sind und die Wehrmacht völlig einseitig bewerten, ohne die Ereignisse (Partisanenbekämpfung) in das Gesamtgeschehen einzuordnen.

Jetzt ist im Pour-le-Mérite-Verlag eine wissenschaftliche Studie unter dem Titel "Verbrechen an der Wehrmacht" erschienen. Autor ist Franz W. Seidler, Historiker mit Lehrauftrag an der Bundeswehr-Universität München. Der angesehene Militärhistoriker dokumentiert in dem Band einen kleinen Ausschnitt aus den Kriegsverbrechen, die an Soldaten der Wehrmacht durch Angehörige der Sowjetarmee begangen wurden. Die 300 dargestellten Kriegsverbrechen bilden nur einen Ausschnitt aus der Kriegsführung der Roten Armee, die sich geweigert hat, die Regeln der Genfer Konvention anzuerkennen, die unter anderem bestimmte, wie wechselseitig Kriegsgefangene zu behandeln sind. In seiner grundlegenden Einführung beschäftigt sich Seidler eingehend mit der aktuellen einseitigen Bewertung des Rußlandfeldzuges zu Lasten der Wehrmacht. Mit freundlicher Genehmigung des Verlages dokumentieren wir einige Auszüge aus dem Text:

Erst trifft es die Wehrmacht, dann die Bundeswehr

»Die Angriffe gegen die Wehrmacht, die 1945 bis 1990 lediglich sporadisch auftraten und einzelne betrafen, eskalierten nach der Wiedervereinigung Deutschlands zu Pauschalattacken. Obwohl sich der Sozialismus als eine menschenfeindliche Ideologie und die UdSSR als ein Zentrum des Mordens und der Unterdrückung entpuppt hatten, überlebten einige sozialistische Anschauungen den Zusammenbruch des Ostblocks und kamen als Heilsbotschaften in den Westen. Sie lassen sich terminologisch festmachen. Als Bezeichnung für die Niederlage des Deutschen Reiches 1945 war jenseits des Eisernen Vorhangs der Ausdruck "Befreiung" vorgeschrieben. Seit ein paar Jahren gilt er auch im Westen. Statt wissenschaftlich korrekt vom "Nationalsozialismus" zu reden, verbreitete sich der Begriff "Faschismus", wie er seit 1945 in der SBZ und in der DDR gebraucht worden war, um den Widerstand der sogenannten "Antifaschisten" zu belegen. Auch die Kriminalisierung der Wehrmacht nahm erst nach 1989 groteske Züge an.

Die politische Tendenz, die von den linken Gruppen verfolgt wird, ist offensichtlich: Gelingt es, die Wehrmacht als verbrecherische Organisation zu desavouieren, dann richtet sich der nächste Schlag gegen die Bundeswehr. Wenn nämlich die Väter der Bundeswehr, Zehntausende von Offizieren und Unteroffizieren, die die Bundeswehr ab 1955 aufbauten, einer Verbrecherbande angehörten, dann kann es mit der Bundeswehr nicht weit her sein. Sie haben wohl die kriminellen Maßstäbe der Wehrmacht an die jungen Offiziere und Unteroffiziere weitergegeben. Trotz aller Schranken gegen die Verwendung der Bundeswehr für Aggressionen und aller Vorkehrungen gegen gesetzeswidrige Befehle, trotz Innerer Führung und politischer Bildung sei der Bundeswehr nicht zu trauen. Gegründet von Angehörigen der "faschistischen" Wehrmacht, ist sie eine "neofaschistische" Organisation, in der die Ewig-Gestrigen das Sagen haben.

Übersehen wird bei dieser Argumentation mehreres, z.B. daß auch die Nationale Volksarmee der DDR, der Inbegriff einer sozialistischen Klassenarmee, von Wehrmachtoffizieren aufgebaut wurde. Bei der Umwandlung der Volkspolizei in die NVA wurden 1956 500 ehemalige Wehrmachtoffiziere mitübernommen. In den 82 höheren Kommandoposten stammten 61 Stelleninhaber aus der Wehrmacht. Der Kommandeur der NVA-Panzertruppen, Generalmajor Arno von Lensky, hatte als Beisitzer beim III. Senat des NS-Volksgerichtshofs an 20 Urteilen, darunter einigen Todesurteilen, mitgewirkt. Er wurde mit der "Medaille für Kämpfer gegen den Faschismus" ausgezeichnet.

Die raffinierteste, einprägsamste und populärste Agitationsunternehmung gegen die Wehrmacht wurde 1995 mit der Ausstellung "Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1945" gestartet. Sie ist wahrscheinlich die erfolgreichste historische Wanderausstellung, die es seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland gibt. Besondere Aufwertung erfuhr sie, als die Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts die Eröffnungsrede in Karlsruhe hielt, der Oberbürgermeister von München die Schirmherrschaft übernahm und in Frankfurt/Main und Bremen jeweils traditionsreiche und ehrwürdige Plätze zur Verfügung gestellt wurden.

Hannes Heer, der im Auftrag des privaten "Instituts für Sozialforschung" in Hamburg die Ausstellung konzipierte, behauptet im Katalog, die Wehrmacht sei eine Säule des nationalsozialistischen Systems und ein "willfähriges Instrument seines Terrors" gewesen. Sie sei "an allen Verbrechen aktiv und als Gesamtorganisation beteiligt" gewesen." Die Wehrmacht spielte eine aktive Rolle beim Holocaust, bei der Plünderung der besetzten Gebiete, beim Massenmord an der Zivilbevölkerung und bei der Vernichtung der sowjetischen Kriegsgefangenen. Die Wehrmacht sei "als Teil der nationalsozialistischen Gesellschaft umfassender und bereitwilliger als bisher angenommen an diesem Verbrechen beteiligt" gewesen. Von Beginn an habe sie versucht, "die Spuren ihrer Verbrechen zu verwischen und die Erinnerung daran zu beseitigen". Aber mit dieser Ausstellung werde sie endlich demaskiert. Das Bild von der anständigen Wehrmacht gehöre der Vergangenheit an. Die "Beweisführung" erfolgt anhand von Schautafeln mit Texten und Fotos."

Warum werden die Initiatoren der Anti-Wehrmachtsausstellung ihrem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit nicht gerecht? Anhand mehrerer Kriterien weist Seidler nach, daß elementaren Forderungen wissenschaftlicher Arbeitsweise nicht entsprochen wird:

"Die Ausstellung dient nicht der Wahrheitsfindung, weil die Wahrheit bereits bekannt ist. Die Legende von der "guten Wehrmacht", die entschleiert werden soll, hat es gar nicht gegeben. Tausende Publikationen über den Zweiten Weltkrieg zeigen, daß die Soldaten aller kriegführenden Mächte an Kriegsverbrechen beteiligt waren, auch deutsche. Völkerrechtswidrige Befehle gab es auf allen Seiten. Aber nicht einmal dem Nürnberger Internationalen Militärtribunal gelang es, die Wehrmacht als Ganzes zu brandmarken und in den Kreis der verbrecherischen Organisationen einzubeziehen. Auch wurden auf deutscher Seite alle Kriegsverbrecher abgeurteilt, deren man habhaft werden konnte. Bis 1949 wurden insgesamt 5.029 Anklagen gegen einzelne Personen erhoben. Seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland sind deutsche Gerichte insgesamt 12.000 Hinweisen nachgegangen. Überführte Kriegsverbrecher und Soldaten, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hatten, wurden bestraft. Das "Institut für Zeitgeschichte" in München bekam die Aufgabe, die Geschichte des Dritten Reiches aufzuarbeiten. Als es 1947 gegründet wurde, hieß es expressis verbis "Institut zur Erforschung der nationalsozialistischen Politik". Die "Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung von NS-Verbrechen" in Ludwigsburg ist seit 40 Jahren auf der Suche nach Schuldigen. Das "Militärgeschichtliche Forschungsamt" edierte neben einer großen Zahl von Monographien acht der auf zehn Bände angelegten Reihe "Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg". Angesichts dieser Bemühungen zur Bewältigung der Vergangenheit leistet die Ausstellung keinen erwähnenswerten Beitrag. Alle Fakten, die sie nennt, sind seit langem bekannt. Viele bekannte Fakten ignoriert sie.

Den Ausstellern geht es nicht um die historische Wahrheit, sondern um die Verfemung der Wehrmacht. Die exemplarische Darstellung militärischer Verbrechen an drei Beispielen – 6. Armee, Weißrußland, Serbien – reichte selbst dann nicht für ein Gesamturteil aus, wenn sie ohne Tendenz durchgeführt wäre. Es wird der Anschein erweckt, als hätten nur die Deutschen Greuel begangen. Die Greuel der Roten Armee und der Partisanen werden weggelassen. Nirgendwo erfährt der Besucher, daß die Partisanen außerhalb des Völkerrechts standen, weil sie gegen den Artikel 1 der Haager Landkriegsordnung verstießen. Ihre Hinrichtung war völkerrechtlich nicht zu beanstanden. Auch Repressalien gegen die Zivilbevölkerung – so "ungerecht" sie im Sinne einer höheren Moral auch sind – waren erlaubt, wenn Attentäter und Saboteure nicht gefaßt werden konnten und der Verdacht bestand, sie würden gedeckt. Die in der Ausstellung gezeigten Hinrichtungen waren in vielen Fällen das Ergebnis kriegsgerichtlicher oder standrechtlicher Verfahren.

Vor Pauschalisierungen soll man sich hüten

Wissenschaftliche Arbeitsweise verlangt ein differenziertes, abwägendes Vorgehen. Die Ausstellung spricht pauschal von den "Verbrechen der Wehrmacht" und läßt außer acht, daß die Wehrmacht aus drei Wehrmachtteilen bestand. Sie umfaßte vom Kriegsbeginn bis zum Kriegsende mindestens 18 Millionen Soldaten. Das Feldheer – ohne Ersatzheer – bestand aus etwa 4.500 Bataillonen. Verbrechen, die einzelne Soldaten begingen, können nicht zu Verbrechen ihrer Einheit umgemünzt werden. Verbrechensbeteiligungen von Heereseinheiten gehen nicht zu Lasten des Großverbands, zu denen sie gehörten. Das Versagen einer Armee exemplifiziert nicht das Versagen aller Heeresverbände. Der einzelne Soldat kann auch nicht durch völkerrechtswidrige Befehle höherer Führungsebenen, von denen er nie etwas erfuhr, zum Schuldigen gestempelt werden. Die verbrecherischen Intentionen des Oberbefehlshabers der Wehrmacht, Adolf Hitler, die sich in einzelnen Befehlen niederschlugen, besagen weder etwas über den Charakter der Gesamtwehrmacht noch über den einzelnen Soldaten.

Die Ausstellung differenziert nicht zwischen SS und Polizei einerseits und Wehrmacht andererseits. Die einen unterstanden der Befehlsgebung des Reichsführers-SS, Heinrich Himmler, und die anderen den Weisungen des Oberkommandos ihres Wehrmachtteils. Heer, Luftwaffe und Kriegsmarine achteten auf ihre Zuständigkeiten. Die Wehrmacht hatte mit den Sonderaufträgen der SS- und Polizeiverbände nichts zu tun, auch wenn sie befehlsgemäß gelegentlich zur Hilfestellung verpflichtet war, z. B. im Partisanenkrieg, der 1942 zur Domäne der SS wurde.

Die Bildkommentare sind so tendenziös, daß der Zuschauer auch bei an und für sich harmlosen Bildern den Eindruck gewinnt, es handle sich um Verbrechen. Soldaten, die Hühner wegtragen oder Schweine vor sich hertreiben, müssen noch lange keine Plünderer sein. Ein Infanterist vor einem brennenden Dorf braucht kein Brandschatzer zu sein. Ein sowjetischer Soldat, der aus einem Tümpel am Wege trinkt, muß nicht in deutscher Gefangenschaft gewesen sein. Ermordete Zivilisten können, wie in Lemberg, auch beim Rückzug der Roten Armee umgekommen sein. Die Aussagekraft von Fotos ist anzweifelbar, wenn das Wo, Wann, Warum und Wie ihrer Entstehung nicht festliegt.«

Fortsetzung in der nächsten Ausgabe


 
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