© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    02/98 02. Januar 1998

 
 
Kolumne
Soll und Haben
von Klaus Motschmann

Der Jahreswechsel ist noch immer ein beliebter Anlaß, gute Vorsätze zu fassen und sich gegenseitig "Glück" zu wünschen, damit sich diese Vorsätze auch verwirklichen lassen. Glück ist bekanntlich weder berechen- noch steuerbar, ebensowenig wie der "gute Rutsch", den man sich wünscht. Wenn die Entwicklungen anders als am Neujahrstag gewünscht verlaufen, dann hat man eben kein Glück gehabt. Mit dem Wünschen zu Beginn des Jahres werden auf diese Weise gleichsam unbewußt auch die Erklärungen dafür geliefert, warum sie möglicherweise nicht eingetreten sind. Am persönlichen Versagen des einzelnen liegt es demnach nicht, wenn sich all die guten Vorsätze nicht erfüllen. Nun gibt es allerdings Entwicklungen, die sich zumindest für den Zeitraum eines Jahres sehr genau voraussagen und buchstäblich berechnen lassen. Dazu gehört die kontinuierliche Entwicklung der Verschuldung unserer öffentlichen Haushalte in Bund, Ländern und Gemeinden. Sie ist zu Beginn des vorigen Jahres relativ genau vorausgesagt worden und hat am Ende des Jahres 1997 tatsächlich den Stand von 2,2 Billionen DM erreicht – bei steigender Tendenz für das Jahr 1998. Von kompetenten Wissenschaftlern und Publizisten wird für dieses Jahr eine Neuverschuldung von täglich (täglich!) 275 Millionen DM prognostiziert. Es besteht leider kein Grund zum Zweifel an dieser Aussage, weil die Ursachen, die zur bisherigen Staatsverschuldung geführt haben, fortbestehen und eine Änderung nach menschlichem Ermessen in diesem Jahr nicht möglich ist.

Wir erleben es ja täglich, wie sich die Parteien gegenseitig bei der Bewältigung dringender Reformen blockieren. Aber selbst wenn der Schuldenanstieg durch die eine oder andere Reform wenigstens verlangsamt oder gar gebremst werden sollte – niemand erklärt der Öffentlichkeit, wie das der Fall sein könnte –, dann ist damit überhaupt noch kein Ansatz für eine notwendige politisch-geistige Neuorientierung vollzogen. Solange der Irrglaube der Spaß-Gesellschaft immer wieder aufs neue bestätigt wird, daß sich alle Probleme dieser Welt durch Geld lösen lassen, werden die "Haben"-Strukturen weiter gefestigt, die sogenannten "Seins"-Strukturen weiter zersetzt. Damit werden Bindungen und Orientierungen des Menschen zerstört, die sich eben nicht nach "Soll und Haben" ordnen lassen, sondern nach dem Grad der Bereitschaft zur Leistung, zum Dienst an Nächsten, zur Opferbereitschaft und zur Verteidigung unserer in Jahrhunderten gewachsenen Werte und Ordnungen.


 
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