© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    03/98  09. Januar 1998

 
 
Vergangenheit: Der Schweizer Botschafter Chenaux - Repond über jüngste Vorwürfe
"Wir warfen nicht den ersten Stein"
von Eric Weber

Exzellenz, ausländische Vorhaltungen, ganz gleich welcher Art und ob berechtigt oder nicht, kommen bei den Eidgenossen schlecht an. Sie führen zu ausgesprochenen Trotzreaktionen. Seit Monaten wird Ihr Land wegen seiner Vergangenheit im Zweiten Weltkrieg angegriffen. Der Schweizer Bundesrat Delamuraz sprach von Erpressung gegenüber der Schweiz. Wie wird die Debatte um die eigene Vergangenheit weitergehen?

CHENAUX-REPOND:Es ist eine alte, für manche traurige Erfahrung, daß die folgenden Generationen die Lage ihrer Vorgänger kaum mehr zu beurteilen vermögen und dennoch mit Verdammungsurteilen rasch zur Hand sind. In unserer schnellebigen Zeit gilt dies noch vermehrt. Zweifellos haben Schweizer Banken und auch Behördenvertreter in Einzelfällen – gelinde gesagt – unkorrekt gehandelt. Daher die heutige Entschlossenheit, geschehenes Unrecht – wenn auch mit großer Verspätung – gut zu machen. Man vergesse indessen nicht, daß mein Land vor und während des Zweiten Weltkrieges viele Tausende von Flüchtlingen aufgenommen hat und damit in militärisch in höchstem Grade verwundbarer Lage der pluralistischen europäischen Kultur entscheidende Überlebenshilfe geboten hat. Die Älteren unter uns wissen dies noch genau. Lesen Sie doch zum Beispiel die vor kurzem erschienenen Erinnerungen des ehemaligen deutschen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker. Daß viele Schweizer auf gehässige Pauschalurteile ungehalten reagieren, wird jeder besser verstehen, der die Zusammenhänge kennt. Wer warf denn den ersten Stein?

"Viele Schweizer reagieren auf die gehässigen Pauschalurteile ungehalten"

Ihr Botschafter-Kollege in den USA, Jagmetti, schreibt in einem internen Papier "von einem Krieg, der gegen die Schweiz" geführt wird. Er trat von seinem Posten zurück, nachdem ein noch Unbekannter das Schreiben an die Presse weitergab. Wie denken Sie über all dies? Kann ein Botschafter nicht mehr die Wahrheit sagen, ohne daß er dafür "bestraft" wird?

CHENAUX-REPOND: Ja, man darf sich schon die Frage stellen, wozu Diplomatie eigentlich nützlich ist, wenn man ihren Anspruch auf Vertraulichkeit bestreitet. Derlei gehört zur Verwahrlosung unserer Zeit.

In der "Basler Zeitung" stand kürzlich, daß es dem Jüdischen Weltkongreß (WJC) letztlich weniger um die regelmäßig angerufene "historische Gerechtigkeit und Würde", sondern vielmehr "ums Geld" gehe. Ist das auch Ihre Einschätzung?

CHENAUX-REPOND: Ich bin in meinem Leben kaum noch so "moralisch" etikettierten Anliegen begegnet, hinter denen sich nicht mehr oder weniger handfeste finanzielle Begehrlichkeiten verbergen. Der WJC macht dabei schwerlich eine Ausnahme. Dies wird zum Beispiel darin deutlich, daß der WJC in Zusammenhang mit dem auf zukünftige Jahrzehnte angelegten "Solidaritätsfond" auf einer ausdrücklichen Erwähnung von leidgeprüften jüdischen Empfängern besteht. Bisher hat sich meines Wissens keine andere Glaubensgemeinschaft und kein anderer Staat gemeldet, die auf eine derartige präferentielle Anwartschaft pochen.

Haben Sie bei Ihrer Tätigkeit im Rahmen der Vereinten Nationen einen jüdischen Druck gegenüber den USA gespürt?

CHENAUX-REPOND: Die verschiedenen Entscheidungsgremien der Vereinten Nationen sind beinahe immer Druckversuchen von außen wie von innen ausgesetzt. Die Amerikaner insgesamt zeigen kaum Interesse an der Bevorzugung einzelner in der UNO vertretenen Bevölkerungs- bzw. Glaubensgruppen. Dagegen vertreten die USA mit zuweilen schwer nachvollziehbarer Beharrlichkeit ihre spezifisch amerikanischen Interessen. Da in den Massenmedien der Ostküste die Amerikaner jüdischen Glaubens überproportional stark vertreten sind, entsteht in der Tat hier und dort der Eindruck der übermäßigen Wahrnehmung jüdischer Anliegen.

Warum aber wird die Schweiz erst jetzt, nach über 50 Jahren, in ihrem Kriegs- und Nachkriegsverhalten so massiv kritisiert?

CHENAUX-REPOND: Je weiter eine Epoche zurückliegt, die sich zu kritischen, oft gar zu irreführenden Angriffen eignet, desto stärker wird den oft demagogische Ziele visierenden Kritikern die Arbeit erleichtert: Die Zeitzeugen sind betagt oder existieren nicht mehr, und das bereits eingangs erwähnte Erinnerungsvermögen an "die Dinge, wie sie wirklich gewesen sind", schwindet dahin.

Sie sind seit 1992 als Botschafter der Schweiz in Deutschland tätig. Wie beurteilen Sie das heutige Ansehen der Eidgenossenschaft in der Bundesrepublik?

CHENAUX-REPOND: Ich kann mir kein Land vorstellen, mit dem die schweizerischen Beziehungen so freundschaftlich sind wie mit der Bundesrepublik Deutschland. Dies hängt mit der recht engen Kulturverwandtschaft im weitesten Sinne zusammen. Gewiß findet das schweizerische Zögern gegenüber der Europäischen Union allmählich weniger Verständnis, und gewiß haben die in jüngster Zeit namentlich seitens gewisser Kreise in den USA gegen mein Land gerichteten massiven Vorwürfe hier und dort in Deutschland ein wenig Schadenfreude hervorgerufen. Dem steht jedoch nach wie vor ein ausgeprägtes Verständnis für die spezifische Situation der Schweiz in der Kriegs- und Nachkriegszeit gegenüber.

Als junger Diplomat in Berlin erlebten Sie 1961 den Bau der Mauer und die Schattenseiten des Kalten Krieges hautnah. Wie denken Sie über die Wiedervereinigung?

CHENAUX-REPOND: Ich habe die deutsche Vereinigung in einsehbaren Berichten schon Mitte der 70er Jahre vorausgesagt. Als sie 1990 lawinenähnlich und ohne daß ein Schuß gefallen wäre, eintrat, erlebte ich den Auftakt dazu als Botschafter der Schweiz bei den Vereinten Nationen in New York. Damals wurde mir leibhaftig bewußt, daß zusammenkommt, was zusammengehört.

Oft wird für die wirtschaftlich schlechte Situation und insbesondere die hohe Arbeitslosigkeit die Vereinigung verantwortlich gemacht.

CHENAUX-REPOND: Die höchst beunruhigende Zahl der Arbeitslosen ist kein spezifisch deutsches, vielmehr ein europäisches Problem, das viel weniger innerhalb nationaler als innerhalb regionaler Grenzen erkennbar ist. Die Lösung oder doch wenigstens die massive Reduktion der Arbeitslosigkeit ist nicht unmöglich, setzt aber einen wesentlich höheren Grad an Mobilität und Verzichtsbereitschaft voraus. Wie schwer man sich hiermit gerade in Deutschland tut, zeigt das klägliche Schicksal der geplanten Steuerreform.

Wie ist Ihr dienstliches Verhältnis zur Bundesregierung?

CHENAUX-REPOND: Ich verstehe nicht recht, was Sie unter "dienstlichem Verhältnis" verstehen. Ich bin, wie alle anderen Missionschefs auch, bei der deutschen Bundesregierung akkreditierter Botschafter der Schweiz. Persönlich verfüge ich wegen meiner nunmehr sechsjährigen Tätigkeit in Bonn wie in Erwiderung der meinem Land in Deutschland entgegengebrachten Sympathie über ein ausgezeichnetes Verhältnis zu einer Anzahl Politiker.

Darf man einen Botschafter fragen, wer 1998 Bundeskanzler wird?

CHENAUX-REPOND: Wie soll ein ausländischer Botschafter, und sei er ein noch so aufmerksamer Beobachter, die Frage nach dem Ausgang der nächsten Kanzlerwahl genauer beantworten können als die deutschen Auguren? Zudem liegt zwischen dem Zeitpunkt dieses Interviews und den Bundestagswahlen noch fast ein ganzes Jahr. Persönlich neige ich zu der Auffassung, daß die CDU/CSU wiederum die stärkste Fraktion und den Kanzler stellen wird. Dafür spricht der einsetzende wirtschaftliche Aufschwung sowie das bisherige Fehlen eines eindeutigen Kontrastprogramms der Opposition. Weit offen bleibt freilich die Frage nach der Zusammensetzung einer neuen Regierungskoalition.

In Ihrem Buch "Vom Kalten Krieg bis zum Fall der Mauer" beschrieben Sie Ihre Eindrücke und Gefühle vor allem über Deutschland. Womit wird sich Ihr neues Buch beschäftigen?

CHENAUX-REPOND: Meinem 1994 erschienenen Buch soll 1998, also im Jahr vor meinem Rückzug aus dem Berufsleben, ein zweiter Band folgen – wenn es nach meinem Willen geht, mit dem Titel "Abschied von der Zukunft?". Wie der erste Band soll auch dieser Essays und Ansprachen der letzten Jahre enthalten, eine Art Botschaft an den Leser, die Zusammenhänge nicht aus den Augen zu verlieren. Das Buch soll rechtzeitig zur Frankfurter Buchmesse erscheinen.

Diese Buchmesse steht dieses Jahr der Schweiz zur Präsentation zur Verfügung.

CHENAUX-REPOND: Projektleiter ist der Leiter des Hauses der Kunst in München, der Schweizer Christoph Vitali. Gewiß soll in erster Linie die Kulturnation Schweiz in ihrer sprachlichen Mannigfaltigkeit dargestellt werden; denn dies ist es, was uns von praktisch allen anderen europäischen Staaten unterscheidet. Im übrigen soll unser Ausstellungsprojekt auch die Tatsache reflektieren, daß 1998 der Westfälische Friede, welcher der Schweiz die völkerrechtliche Unabhängigkeit brachte, sich zum 350. Male jährt, daß die "Alte Eidgenossenschaft" vor 200 Jahren durch Napoleon beseitigt wurde und daß wir zum 150. Male die Wiederkehr der ersten Bundesverfassung von 1848 feiern. Jener Verfassung verdankt die Schweiz ihre heutige Stellung. Daß mit diesem Anlaß meine berufliche Tätigkeit zu Ende geht, erfüllt mich mit Befriedigung.


 
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