© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    03/98  09. Januar 1998

 
 
75. Geburtstag: Der Berliner Historiker und Philosoph Ernst Nolte revolutionierte das Geschichtsbild
Wissenschaftler im Kampf der Ideen
von Martin Otto

Wer eine Liste der einflußreichsten deutschen Historiker nach 1945 erstellen möchte, wird an Ernst Nolte, der an diesem Sonntag seinen 75. Geburtstag feiert, kaum vorbeikommen. Der emeritierte Ordinarius für neuere Geschichte, zuletzt lange Jahre tätig am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin (FU), ist nicht nur der wohl kompetenteste Historiograph der Geschichte der faschistischen Bewegungen und der Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, sondern gehört auch zu den meistgelesenen deutschen Historikern im Ausland, das sich von den Mitte der achtziger Jahre vom Zaun gebrochenen "Historikerstreit" unbeeindruckt zeigte.

Die Historisierung (Einordnung) des Menschen Nolte nimmt sich interessant aus. 1923 wurde er im katholischen Bürgertum in der Arbeiterstadt Witten an der Ruhr geboren. Bereits als kleiner Junge wird er Augenzeuge der Ereignisse, die später unter der großen Überschrift "Europäischer Bürgerkrieg" den Schwerpunkt seines wissenschaftlichen Werkes bilden sollen, nämlich gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen organiserten Arbeitern nationalsozialistischer, kommunistischer und anderer Couleur.

Die Zeit des Nationalsozialismus erlebte er aus dem Blickwinkel eines Kindes und eines Heranwachsenden. Früh beginnt er, sich durch Lektüre politischer Texte eine intellektuelle Grundbildung anzueignen. Erstmals mit Schriften Mussolinis konfrontiert, stellt er fest, daß der italinenische Duce sich gleich ihm, Nolte, recht intensiv mit Marx und Nietzsche auseinandergesetzt haben muß. Der Nationalsozialismus, bei aller Faszination, wirkt auf den Schüler Nolte gleichwohl abstoßend, muß er doch – wie er das später in seinem Buch "Streitpunkte – Heutige und künftige Kontroversen um den Nationalsozialismus" formulierte, feststellen, daß er dem nationalsozialistischen Ideal eines deutschen Knaben, der seine Erfüllung "auf dem Sportplatz und dem Kasernenhof" sucht, kaum entspricht, vielmehr dem nationalsozialistischen Feindbild eines bücherlesenden, schmalbrüstigen Intellektuellen, mithin dem Widerpart des idealen Hitlerjungen.

Nach seinem Abitur beginnt Nolte, noch zu Kriegszeiten, weil er vom Wehrdienst aus gesundheitlichen Gründen freigestellt ist, in Freiburg im Breisgau Vorlesungen bei Martin Heidegger über Philophie zu hören; Heidegger sollte der Denker bleiben, dessen starker Einfluß sich durch das gesamte Werk Noltes wie ein roter Faden zieht. Nolte studiert auch klassische Philologie und wird 1952 bei Eugen Fink in Freiburg promoviert. Die spätere Laufbahn als Hochschullehrer war zu diesem Zeitpunkt indes kaum absehbar.

Zunächst wurde Nolte Studienrat für Alte Sprachen an einem Gymnasium in Bad Godesberg. Schlagartig bekannt wird er, als 1963 sein im Wortsinne epochemachendes Werk "Der Faschismus in seiner Epoche" erscheint. Mit diesem Werk wurde erstmals eine historische und philosophische Würdigung des Faschismus als europäisches Gesamtphänomen versucht. Ausweislich der eingehenden Beschäftigung mit den geistesgeschichtlichen Grundlagen und der Geschichte der französischen "Action française", des italienischen Faschismus und des deutschen Nationalsozialismus begreift Nolte den Faschismus als eine abgeschlossene Epoche der europäischen Geschichte. Das Buch avancierte recht bald zum historischen Standardwerk und Klassiker der Geschichtsforschung. Hans-Ulrich Wehler, Doyen kritischer deutscher Geschichtsschreibung, bezeichnete es treffend als "das bedeutendste Buch, das der deutschen Geschichtsschreibung seit mehr als zwei Jahrhunderten entwachsen ist". Gleichwohl sah sich Nolte auch damals schon heftiger Kritik ausgesetzt. Armin Mohler etwa sah in dem Werk damals noch eine Art "Selbstgeißelung" und eine Zeitschrift wie Nation Europa erblickte darin ein "Symptom des internationalistischen Anschlags auf die Selbständigkeit der Völker und Staaten".

Die wissenschaftliche Kritik zeigte sich von solcher Art der Kritik glücklicherweise unbeeindruckt; die Universität Köln habilitierte den Studienrat Nolte allein aufgrund dieses Buches. Unter maßgeblicher Mitwirkung, unter anderem auch des marxistischen Philosophen Wolfgang Abendroth, wurde Nolte 1965 auf ein Ordinariat für Neuere Geschichte an der Philipps-Universität Marburg berufen. "Der Faschismus in seiner Epoche" wurde in alle maßgeblichen Sprachen der Welt übersetzt.

Als Nolte 1973 aus Marburg an die Freie Universität Berlin berufen wurde, hatte er, wie er sich einmal gegenüber der jungen freiheit äußerte, einen politischen Wandel durchgemacht. Hatte er noch in den fünfziger Jahren in der deutschen Wiederbewaffnung die Gefahr des Wiederaufkommens eines deutschen Militärstaates gesehen, so engagierte er sich unter dem Eindruck der 68er Bewegung massiv gegen eine politische Beeinflussung der Universitäten. Als ein "politischer Professor" verstand sich Nolte gleichwohl nie.

Mittlerweile war Nolte zu einem führenden deutschen Historiker mit den Schwerpunkten Parteiengeschichte, Deutsche Geschichte ab 1870 und Faschismusforschung avanciert. Mit geschichtsphilosophischen Problemen befaßte er sich genauso wie mit Deutschland und dem Kalten Krieg. Bei all diesem wissenschaftlichen Werk wäre Nolte freilich nur einem illustren Fachpublikum bekannt geworden. Zu einem Allgemeinbegriff, wenngleich mit unschönen Nebenaspekten, wurde sein Name und zu einem Dauergast in den Schlagzeilen der Feuilletons. Nolte wurde zu einem Synonym für die Historisierung des Nationalsozialismus. 1986 erschien im Propyläen-Verlag Noltes Buch "Der europäische Bürgerkrieg 1917–1945", der den Kampf der beiden Bürgerkriegsparteien, nämlich Nationalsozialismus und Bolschewismus, beschreibt; als verbindendes Merkmal beider Parteien wird hier die Übernahme der Alleinherrschaft in einem europäischen Großstaat nach erfolgreicher Vernichtung aller Gegner konstatiert. Dies würde einen "Nexus" (geistige Beziehung) zwischen bolschewistischem und nationalsozialistischem Terror bedeuten. Auf Basis seines Buches verfaßte Nolte am 6. Juni 1986 in der FAZ den seine Thesen illustrierenden Artikel "Vergangenheit, die nicht vergehen will". Den selben Vortrag hätte Nolte im Rahmen der Frankfurter Römerberg-Gespräche halten sollen. Doch dem Artikel folgte eine scharfe Erwiderung von Jürgen Habermas in der Zeit, in der Nolte eine Verharmlosung der nationalsozialistischen Verbrechen an den Juden vorgehalten wurde. Aus dem Konflikt entsprang der sogenannte "Historikerstreit", der mit viel scharfer geistiger Munition und unerbittlicher Härte auf beiden Seiten ausgefochten wurde. In vielleicht keinem anderen wissenschaftlichen Konflikt mußte das Primat der Wissenschaft so hinter eine politische Argumentation zurücktreten. Historiker wie Eberhard Jäckel und Hans Mommsen glaubten, gegen "Relativierer" wie Nolte, aber etwa auch Andreas Hillgruber oder Michael Stürmer, vorgehen zu müssen. In seinem Buch "Das Vergehen der Vergangenheit" (Berlin/Frankfurt 1987) hat Nolte die Auseinandersetzung mit seinen Kritikern ausdrucksvoll dokumentiert.

Heute, über zehn Jahre nach dem Historikerstreit, betrachten auch Historiker wie Eberhard Jäckel manche Äußerungen im damaligen Streit für überzogen. Bereits 1987 prangerte der Bremer Historiker Immanuel Geiss, politisch sicher über allen Verdacht erhaben, die gänzlich einseitige Verdammung der wissenschaftlichen Arbeit an.

Auch wenn heute – unter anderem seit dem Erscheinen des "Schwarzbuch des Kommunismus" von Stéphane Courtois – das Grauen des bolschwistischen Terrors dem Nationalsozialismus, der GULag dem KZ immer ähnlicher erscheint, ist der Flurschaden des Historikerstreits noch heute spürbar. Für Heerscharen braver Studienräte, die die Ideengeschichte vielleicht ansonsten nur streiften, ist Nolte auf die Rolle eines Verharmlosers Hitlers beschränkt. Und auf der anderen Seite wird leider auch die Historisierung des Nationalsozialismus mit einer Apologie desselben verwechselt. Somit ist dem Jubilar zu seinem 75. Geburtstag eine ernsthaftere Auseinandersetzung mit seinem Werk ohne jede Voreingenommenheit politischer Art zu wünschen. Damit Nolte als das geehrt wird, was er ist: der vielleicht bedeutendste deutsche Ideenhistoriker dieses Jahrhunderts.


 
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