© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    03/98  09. Januar 1998

 
 
Mitschuld der TV-Reporter: Aus spontanen Krawallen
ist ein häufiges Ritual geworden
Französische Frontberichterstattung

von Robert Schwarz

So wie die tristen Betonburgen der französischen Vorstädte kaum voneinander zu unterscheiden sind, laufen auch die regelmäßig dort stattfindenden Jugendkrawalle stets nach dem gleichen Drehbuch ab.

Kurz vor den Weihnachtsferien war es wieder einmal so weit: Die explosive Stimmung in jenen Stadtteilen vieler Großstädte, die regierungsamtlich verharmlosend als "schwierige Viertel" bezeichnet werden, entlud sich in einem Inferno aus Gewalt, Plünderung und Brandstiftung. Ziele der jugendlichen Aggression sind neben Privateigentum zumeist Objekte oder Personen, die in ihren Augen den Staat repräsentieren. Feind Nummer eins ist die Polizei. Aber auch Busfahrer und Feuerwehrleute werden regelmäßig attackiert. Nur in Ausnahmefällen, wie der Tötung eines jungen Ausländers in einem Polizeirevier in Lyon, ist strafbares Fehlverhalten der Ordnungshüter Auslöser für die Gewaltexzesse von Kindern und Jugendlichen, denen ihre Eltern nicht beibringen konnten, wie man einem Protest friedlich Ausdruck verleiht.

In der Regel genügt ein Funke am Pulverfaß, damit ein Polizeibeamter einen jungen Nordafrikaner erschießt. Die Umstände sind dabei nebensächlich, wie sich bei den Krawallen im Pariser Umland nur wenige Tage nach dem Vorfall in Lyon gezeigt hat. In Melun hatte beispielsweise ein Gendarm einen 16jährigen Algerier erschossen, der mit seinem Golf GTI auf die Polizisten zugerast war, um eine Sperre zu durchbrechen. Familie, Freunde und Verwandte versuchten mit der Unterstützung eines Teils der Medien dennoch, den jungen Mann, der wegen mehrfacher Gewaltdelikte bei Gericht bereits gut bekannt war, als unschuldiges Opfer "rassistischer Polizeigewalt" darzustellen.

Daß besonders viele junge Menschen afrikanischer Herkunft Probleme mit der Polizei und Justiz haben, ist unbestritten. Jedoch hängt dies wohl nicht unwesentlich mit ihrem überdurchschnittlichen Anteil an der Verbrechensrate zusammen. Die Statistik weist bei den verurteilten Straftätern für 1996 einen Prozentsatz von 69,1 Prozent für die Afrikaner aus, während die Europäer mit 20,7 Prozent und die Asiaten mit 7,2 Prozent partizipieren.

Zu den Orten mit den schlimmsten Ausschreitungen gehörte erneut die elsässische Hauptstadt Straßburg. Allein in der Neujahrsnacht gingen neben zahlreichen Telefonkabinen, Bushaltestellen und städtischen Müllcontainern 53 Autos in Flammen auf. Nach Erkenntnissen der Präfektur waren an den Krawallen etwa 300 Kinder und Jugendliche zwischen 12 und 20 Jahren beteiligt. Am folgenden Tag wurden dann nochmals 14 Autos in Brand gesteckt.

Die Polizeigewerkschaft "Alliance" beklagte in bezug auf die Straßburger Randale, daß die Ordnungshüter inzwischen völlig frustriert seien, da im Falle von Festnahmen jugendlicher Täter diese von der Justiz "praktisch systematisch" wieder freigelassen würden.

Betrachtet man nun die Gruppe der an den Krawallen in der Hauptsache beteiligten schwarz- und nordafrikanischen Jugendlichen genauer, so ergibt sich ein weitaus differenzierteres Bild – besonders in kultureller Hinsicht –, als es gemeinhin in der Öffentlichkeit gezeichnet wird. Die "blacks" (Schwarzafrikaner) und die "beurs" (Nordafrikaner), wie sie sich selbst nennen, besitzen fast alle die französische Staatsangehörigkeit, doch eine wirkliche Integration in die französische Gesellschaft haben die wenigsten von ihnen geschafft. Viele versuchen erst gar nicht, Teil dieser Gesellschaft zu werden, von der sie sich zurückgestoßen fühlen.

Im wesentlichen lassen sich drei Gruppierungen ausmachen: Auf der Suche nach Wurzeln, nach einem Halt, hat sich ein Teil der Nordafrikaner der Religion ihrer Eltern zugewandt, verbunden allerdings mit besonderem Glaubenseifer und Dogmatismus. Gegenüber den ausufernden Versuchungen einer immer materialistischer werdenden westlichen Konsumgesellschaft erweisen sie sich als wesentlich resistenter als die meisten ihrer französischen Altersgenossen. Einige von ihnen (allerdings nur ein sehr geringer Teil) schließen sich gewaltbereiten islamistischen Organisationen an.

Einen weitaus größeren Einfluß als die Imame üben viele Rap-Bands auf die Vorstadt-Jugendlichen aus. In ihren Texten schreien sie sich den Haß auf die als feindselig empfundene Umwelt von der Seele. Ihre Leitbilder sind Stars der aus den US-amerikanischen Slums importierten Subkultur. Diese falschen Idole sind deshalb so gefährlich, weil sie offen zu Gewalt aufrufen und selbst nicht davor zurückschrecken, Gesetze zu verletzen. Die bekanntesten Vertreter des brutalen Sprechgesanges à la francaise tragen als Band-Namen die inzestuöse Aufforderung "Nique ta mère"/NTM (F… deine Mutter). Die Mitglieder von NTM wurde im letzten Jahr wegen Gewaltaufrufen gegen Polizisten vor einem Gericht in Südfrankreich zu Bewährungsstrafen verurteilt.

Mit spektakulären Hungerstreiks an belebten Plätzen versuchte eine dritte Gruppe, ein schlechtes Gewissen bei der französischen Regierung und ihren Mitbürgern zu erzeugen. Bei diesen "beurs" handelt es sich um die Kinder jener Muslime, die im Algerienkrieg auf seiten der französischen Armee kämpften: den sogenannten "harkis". Nach der Unabhängigkeit Algeriens reisten sie nach Frankreich aus, um den tödlichen Repressalien der neuen Machthaber zu entgehen. Nachdem sie ihr Leben dafür aufs Spiel gesetzt hatten, Franzosen sein zu dürfen, fühlen sie sich nun nach über 30 Jahren verraten angesichts ihrer Abschiebung in Ghettos und den zahlreichen nicht eingelösten Zusagen fast aller französischen Regierungen.

Unterstützung wurde den "harkis" lediglich vom national-konservativen CNI und dem Front National angeboten. Die derzeitige sozialistische Regierung weigert sich unverständlicherweise, besondere Programme für jene zu verabschieden, die sich bewußt für die französische Nationalität entschieden haben und daher vergleichsweise problemlos zu integrieren wären.

Überraschend schaffte es vor wenigen Monaten eine bislang von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommene Gemeinschaft junger "beurs", das Interesse der Medien auf sich zu lenken, die sich sonst nur dann für diese Heranwachsenden zu interessieren pflegen, wenn sie Feuer legen und zerstören.

In den letzten Tagen warfen verschiedene Printmedien, darunter die linksliberale Wochenzeitung Marianne, ihren Kollegen von den Fernsehstationen vor, sie würden bewußt Öl ins Feuer gießen. In der Tat sind die Fernsehreporter nach einem Zwischenfall immer auffallend schnell vor Ort und belästigen die Heranwachsenden tagelang mit so aufmunternden Fragen wie "Was bereiten eure Brüder vor?"

Da viele der immer jünger werdenden Gewalttäter sich gerne mediengerecht in Szene setzen, trägt diese Art von Frontberichterstattung nicht gerade zur Beruhigung der Gemüter bei. Die jungen Leute haben zudem inzwischen gemerkt, daß, nachdem über Ausschreitungen in bestimmten Problemvierteln berichtet wurde, die Politiker sich beeilten, ein wahres Füllhorn an Subventionen dort auszuschütten. – Was als spontane Empörung wahrgenommen wird, ist zu einem festen Ritual geworden.


 
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