© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    03/98  09. Januar 1998

 
 
Zur türkischen Sicht: Mafia und PKK organisieren Schiffstransport kurdischer Wirtschaftsflüchtlinge
Die Flüchtlingswelle und die PKK
von Orhan Candar

Auch die Mafia kennt keine Nationalität. Wie die italienische Zeitung La Repubblica am 3. Januar berichtete, besteht zwischen der türkisch-kurdischen sowie der griechischen Mafia einerseits und der italienischen Mafia andererseits eine rege Zusammenarbeit. Hinzu kommen bestechliche Beamte am Bosporus. Und schon ist es ein Kinderspiel, Hunderte von Menschen am hellichten Tage auf im Bosporus vor Anker gegangene Wrackschiffe zu verladen – Richtung Italien, sprich: via Rom gen Germania.

Die Route Istanbul-Apulien mit Zwischenstation in Griechenland und Albanien kam erst zur vollen Blüte, nachdem die türkische Küstenwache den zuvor beliebteren ägäischen Fluchtweg weitgehend abschneiden konnte. Indes bleibt Athen, wo sich die ERNK, der "politische Arm" der PKK mit unverhohlener Unterstützung der griechischen Regierung betätigt, auch weiterhin die Schaltzentrale.

Das in Brüssel ansässige PKK-Fernsehen MED-TV (O-Ton Öcalan: "unser Sender") hält seine Zuschauer schon seit Wochen über die Fluchtwelle auf dem laufenden, wobei die Präzision seiner Angaben zur Zahl und Nationalität der Bootsflüchtlinge auffällig ist. Selbst ein "kritischer" Beobachters wie Gerd Höhler (Frankfurter Rundschau, 5. Januar) sieht darin einen Anhaltspunkt für die maßgebliche Mitwirkung der PKK-Connection bei den aktuellen Ereignissen. Erhärtet wird diese These auch dadurch, daß die meisten kurdischstämmigen Flüchtlinge aus dem nordirakischen Zakho stammen, das formal von der PUK (Patriotische Front Kurdistans), in Wirklichkeit jedoch von deren Verbündetem PKK kontrolliert wird. Über welche Wege diese Menschen nun allerdings nach Istanbul gelangen konnten, ist ein Rätsel, weil das an die Türkei angrenzende Gebiet unter der Herrschaft der verfeindeten DPK (Demokratische Partei Kurdistans) steht. Da sich unter den Asylsuchenden eine nicht unerhebliche Zahl iranischer Kurden findet, kommt das iranische Territorium als mögliche Route in Frage, zumal PUK-Chef Talabani gute Beziehungen zu Teheran unterhält.

Fest steht jedenfalls, daß Passagiere des türkischen 900-Tonnen-Schiffes "Ararat" gegenüber den italienischen Behörden zu Protokoll gaben, daß sie jeweils zwischen 3.000 und 5.000 Dollars für die Überfahrt zahlen mußten.

Daß in erster Linie wirtschaftliche Sorgen die Kurden zur Flucht bewegen, wird nicht nur von Ankara behauptet. Auch der "linksdemokratische" Innenminister Italiens, Giorgio Napolitano, scheint davon überzeugt zu sein. Agenturmeldungen vom 2. Januar zufolge forderte er Ankara auf, seine Häfen besser zu kontrollieren. Bedenkt man seine einen Tag später gemachte Äußerung, daß Kurden in der Türkei unterdrückt würden, fragt man sich natürlich, ob der italienische Innenminister die Türken zur Abschneidung der Fluchtwege der "Unterdrückten" auffordern wollte.

Mit ihren spektakulären See-Aktionen hat die PKK laut türkischen Zeitungen einen weiteren Beweis für ihre Finanzkraft und ihre hervorragenden internationalen Verbindungen erbracht. Daß Italien, bisher der "beste Freund" der Türkei in der EU, nach den jüngsten Entwicklungen "mit der deutschen Zunge" spreche, sei ein interessanter Hinweis auf den Ursprung geheimdienstlicher Aktivitäten, die sich in dieser Frage der PKK nur als ein willfähriges Instrument bediene. Derartige vage Vermutungen klingen für die türkischen Nachrichten-Konsumenten glaubwürdig, nicht zuletzt dank tatkräftiger Hilfe des Bonner Auswärtigen Amtes. Fünf Tage, nachdem der Hürriyet-Autor Hursit Celebi (Würzburg) seine Leser auf den vermeintlichen "deutschen Zerstückelungsplan für die Türkei" aufmerksam gemacht hatte, forderte Außenminister Kinkel von Ankara eine "politische Lösung der Kurdenfrage und Achtung der Minderheitenrechte".

Auf derselben Zeitungsseite, auf der diese Kinkel-Äußerung wiedergegeben ist, berichtet Hürriyet am 4. Januar von der "großzügigen Bedienung der türkischen Islamisten durch Bonn". Fazit: Deutschland setze sich sowohl für den kurdischen Separatismus als auch für "reaktionäre Kräfte" in der Türkei ein.

Nicht nur in den diplomatischen Kreisen der Türkei finden Verschwörungstheorien in Folge plumper Äußerungen Klaus Kinkels weitgehende Zustimmung. Auch die einflußreichen Militärs gehen inzwischen auf Distanz zur deutschen Politik. In der Tat operiert die PKK in Deutschland, dem offiziellen Verbot zum Trotz, praktisch ungehindert, veranstaltet "Konzertabende", sammelt "Spenden", gibt die Tageszeitung Özgür Politika heraus und führt seit einem Jahr durch aus der Zentrale in Damaskus entsandte "Emissäre" Verhandlungen mit der Bundesanwaltschaft.

Die Europa-Aktivitäten der PKK sind aber längst nicht auf Deutschland beschränkt, wie die Türken wissen und auch zugeben. Der Fernsehsender MED ist ein bezeichnendes Musterbeispiel westlicher Zusammenarbeit. MED-TV unterhält Studios in Brüssel, strahlte seine Sendungen bis vor einem Jahr über den französischen Satelliten Utel-Sat aus (und neuerdings über den amerikanischen Intel-Sat), und London ist der Sitz der englischen Briefkasten-
firma "STV", die als Vertragspartner fungiert. Nicht minder bunt ist die Palette jener Sender, die sich mal des französischen Utel-Sat, mal des amerikanischen Intel-Sat bedienen. Neben der "antiimperialistischen" PKK empfängt der Zuschauer einen "hard porno"-Kanal, das serbische Fernsehen, einen griechischen Privatsender und als Krönung das HAKK-TV, den Kanal des "Anatolisch-Föderalistischen
Kalifatstaates" der Kaplan-Gemeinde in Köln.

Daß diese internationale Verflechtung von Ankara hingenommen oder verdrängt, der deutsche Aspekt jedoch umso mehr thematisiert wird, hat der "liberalen" Milliyet zufolge (Ausgabe vom 27.12.97) mit der deutschen Asylpolitik zu tun, die in Deutschland einen regelrechten Asylsektor habe entstehen lassen. Als Hauptgewinner des "Asylbetrugs" gelten nach Karakullukcu (Hürriyet, 4. Januar) "rote und grüne Rechtsanwälte, profilierungssüchtige türkische Dissidenten und diverse Menschenrechtsgruppen, die sich fetter Beträge der Kommunen und kirchlichen Kreise wie des Entwicklungsdienstes der evangelischen Kirche Deutschlands erfreuen". Verlierer ist das deutsch-türkische Verhältnis. Das Projekt einer deutschsprachigen Universität in Istanbul – es gibt dort bereits eine englischsprachige und eine französische – ist, um nur ein Beispiel zu nennen, bis auf weiteres auf Eis gelegt worden.

Tatsächlich ist die deutsche Asylpraxis äußerst merkwürdig. So ist es eine vermutlich nur den türkischen Konsulaten und den deutschen Ausländerbehörden bekannte Tatsache, daß kurdischstämmige Türken, deren Asylanträge bei den deutschen Instanzen noch in Bearbeitung sind, bei den diplomatischen Vertretungen ihrer Heimat höchstpersönlich Reisepässe beantragen – und auch erhalten, um in der Türkei der Hochzeit eines Familienangehörigen beizuwohnen. Dabei kommt es zu aberwitzigen Konstellationen: Mustafa Baran (Name geändert), ein kurdischstämmiger Türke, der vor einem Jahr in Berlin als ein in der Türkei wegen seiner PKK-Mitgliedschaft verfolgter Kurde Asylantrag gestellt hat, durfte vor einem Monat mit einem gültigen Paß seinen Vater in Ostanatolien beerdigen, obwohl die türkische Polizei diesen gemäß Asylantrag bereits 1994 ermordet hatte. Unter (türkischen) vier Augen bereut der Asylsuchende diese Lüge, die in Wirklichkeit nicht seiner eigenen Phantasie entsprungen sei, sondern der seines deutschen Rechtsanwalts.

Wie viele solcher schwerer Schicksale nun von Wrackschiffen nach Italien verfrachtet werden, wird man erst in ein paar Monaten in Deutschland erfahren – wahrscheinlich auf türkischen Konsulaten. Denn, so Baran, "dort kann ich alles erzählen. Schließlich sind wir Landsleute".

Deutsche Politiker sollten sich angesichts der jetzigen kurdischen Auswanderungswelle die folgenden Worte des italienischen Anti-Mafia-Vorkämpfers Pier Luigi Vigna vergegenwärtigen: "Menschenhandel wird das große Mafia-Geschäft des nächsten Jahrhunderts sein. Die Mafia hat sich immer als fähig erwiesen, neue Quellen des Geldmachens zu finden – von Tabak zu Drogen und jetzt Menschen."


 
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