© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    04/98  16. Januar 1998

 
 
Dokumentation (III): Bundeswehr-Historiker Franz W. Seidler über Verbrechen an der Wehrmacht
Es war von Anfang an der totale Krieg
von Hans-Peter Rissmann

Der Rußlandfeldzug, wie die Deutschen den Krieg nannten, bzw. der Große Vaterländische Krieg, wie ihn die Sowjets bezeichneten, war in vielerlei Hinsicht ein Krieg außerhalb des Völkerrechts. Diesen Krieg kennzeichnete eine Kriegführung, die von sowjetischer Seite einen besonders bestialischen Charakter trug – dies unterschlägt bewußt die Wanderausstellung "Verbrechen der Wehrmacht" des "Hamburger Instituts für Sozialforschung", deren wissenschaftlicher Anspruch mittlerweile widerlegt ist. Wir setzen die Dokumentation von Auszügen aus der jetzt im Pour-le-Mérite-Verlag erschienenen wissenschaftlichen Studie "Verbrechen an der Wehrmacht" fort, die wir in den vorigen beiden Ausgaben begonnen haben. Autor der Studie ist der Militärhistoriker Franz W. Seidler, der an der Bundeswehr-Universität München lehrt.

 

Die Sowjetunion erkannte das Völkerrecht nicht an

»Die Sowjetunion stand völkerrechtlich außerhalb der Staatengemeinschaft. Lenin hatte alle Vereinbarungen, die 1907 in Den Haag von den Vertretern fast aller Staaten unterzeichnet worden waren, als eine Erbschaft des Zarenreiches gekündigt. Der Zar war es gewesen, der die Konferenz initiiert hatte und dessen Vertreter maßgeblich an den Formulierungen der Texte mitgearbeitet hatten. Den beiden Genfer Konventionen von 1929 war die UdSSR überhaupt nicht beigetreten. Das hatte zur Folge, daß die Verträge für Kriege mit der Sowjetunion nicht galten.

Als die Rote Armee im September 1939 aufgrund des Ribbentrop-Molotow-Pakts in Ostpolen einmarschierte, hatten die gefangengenommenen Angehörigen der polnischen Armee keinen völkerrechtlichen Schutz. 12.500 polnische Offiziere konnten ermordet werden, ohne daß die Weltöffentlichkeit etwas davon erfuhr. Auch im finnisch-russischen Winterkrieg setzte sich die Sowjetunion über die völkerrechtlichen Bestimmungen hinweg. Die Bitte des finnischen Außenministeriums vom 30.11.1939, beide Seiten möchten sich an die Haager Landkriegsordnung von 1907 und an die Genfer Konventionen von 1929 halten, blieb unbeantwortet. Im Zweiten Weltkrieg waren diese Verträge zwar zwischen dem Deutschen Reich und seinen Verbündeten einerseits und den Westalliierten andererseits geltendes Recht, aber nicht zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion.«

Die Sowjetunion weigerte sich, auf Angebote zu international üblichen Absprachen bei der Kriegsgefangenenfrage einzugehen. Seidler weiter: »Die Bitte des deutschen Auswärtigen Amtes um Aufklärung über die Lager für deutsche Kriegsgefangene in der Sowjetunion, die über die bulgarische Schutzmachtmission nach Moskau übermittelt wurde, wurde von dort abschlägig beschieden. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz bekam keine Genehmigung, Lager auf sowjetischem Boden zu besuchen. Es erhielt auch keine Listen der deutschen Kriegsgefangenen, obwohl das Deutsche Reich und die mit ihm verbündeten Länder Namenslisten russischer Kriegsgefangener zur Verfügung stellten. Bei der Roten Armee gab es kein Zeichen, daß man bereit sei, sich an das Völkerrecht zu halten. Der Versuch des amerikanischen Präsidenten Roosevelt am 29.5.1942, den sowjetischen Außenminister Molotow in einem persönlichen Gespräch zum Beitritt der UdSSR zu den Genfer Konventionen, zur Zulassung von Vertretern des Internationalen Roten Kreuzes zu den Gefangenenlagern und zum Austausch von Namenslisten von Gefangenen, Verwundeten und Gefallenen zu bewegen, war erfolglos. Zu diesem Zeitpunkt hatte allerdings auch die deutsche Regierung kein Interesse mehr an Mitteilungen über sowjetische Kriegsgefangene, weil dann die Verluste in den Kriegsgefangenenlagern offenkundig geworden wären.«

Eine Woche nach dem Angriff der Wehrmacht am 22.6.1941 auf die Sowjetunion wurde durch Moskau der Partisanenkrieg ausgelöst. Er war eine vorbereitete völkerrechtswidrige Maßnahme. Seidler schreibt hierzu:

»Die Wehrmacht war darauf nicht vorbereitet. In der Roten Armee gab es dagegen seit 1933 eine "Dienstvorschrift für den Partisanenkampf". Bereits im Januar und Februar 1941 wurden in verschiedenen Militärbezirken der Sowjetunion von der "Gesellschaft zur Förderung der Verteidigung" (Osowiachim) groß angelegte Partisanenkriegsspiele abgehalten, an denen auch die Zivilbevölkerung teilnahm. Die Armeezeitung "Roter Stern" berichtete darüber. Aufgrund der Erfahrungen stellte die KPdSU bereits vor Kriegsbeginn sogenannte Zerstörungsbataillone auf. Sie sollten, wenn ein Gebiet von der Roten Armee aufgegeben werden müßte, systematisch alle kriegs- und lebenswichtigen Betriebe, Nachrichtenmittel, Verpflegungsstellen usw. zerstören oder vernichten und, sobald sie von der Front überrollt waren, den Partisanenkampf aufnehmen.« Die Wehrmacht sah sich gezwungen, erbittert gegen Partisanen vorzugehen. Seidler weiter: »Trotz der eskalierenden Brutalität im Partisanenkrieg rief die deutsche militärische Führung die Soldaten der Wehrmacht immer wieder auf, die fremde Zivilbevölkerung zu schonen. Der Oberbefehlshaber des Heeres verlangte in den "Richtlinien für Partisanenbekämpfung", die er am 25.10.1941 herausgab, von der Truppe, daß sie "durch vernünftige, gerechte Behandlung das Vertrauen der Bevölkerung zu gewinnen" habe, damit die Partisanen von dort keine Unterstützung bekämen.«

Im Zweiten Weltkrieg ließen sich alle Kriegführenden Verstöße gegen die Verwundetenkonvention von 1929 zuschulden kommen. Das Zeichen des Roten Kreuzes wurde mißbraucht und mißachtet. Im besonderen Maße waren jedoch die deutschen Verwundeten, die in die Hände der Roten Armee fielen, der Willkür des Gegners ausgeliefert. Die Angehörigen der Roten Armee waren durch keine völkerrechtlichen Verpflichtungen gebunden. Seidler führt hierzu aus: »Die sowjetische Truppenführung ignorierte, als der Krieg begann, das Zeichen des Roten Kreuzes. Deutsche Verwundetennester und vorgeschobene Hauptverbandplätze, die mit einer weithin sichtbaren Rotkreuz-Fahne gekennzeichnet waren, zogen in besonderem Maße feindliches Artilleriefeuer auf sich, so daß schließlich das Ausflaggen unterlassen wurde, weil es keinen Schutz bot. Da auch die deutschen Feldsanitäter, die eine Rotkreuz-Armbinde trugen und waffenlos waren, bei ihrer Gefangennahme zusammen mit den Verwundeten gemeuchelt wurden, erhielten sie zum Schutz der Verwundeten eine Pistole 38. Das Anlegen der Rotkreuz-Armbinde wurde ihnen untersagt, um sie vor Scharfschützen, denen sie ein deutlich sichtbares Ziel boten, zu bewahren.

Wenn der Roten Armee deutsche Verwundete, die nicht abtransportiert werden konnten, in die Hände fielen, war es eine Frage der Willkür, was mit ihnen geschah. Manchmal wurden die Gebäude mit den Verwundeten in die Luft gesprengt, manchmal wurden sie von der Roten Armee übernommen und die Deutschen evakuiert oder wie in Feodosia aus dem Fenster geworfen, und manchmal kamen die Männer in besondere Spitäler für Kriegsgefangene. Ihr Leben hing auch im letzten Fall an einem seidenen Faden, wenn das deutsche Lazarettpersonal weggeschickt wurde und wenn es, wie meistens, an Medikamenten und Verbandsmaterial fehlte. In dem Verwundetenspital Beketowka starben nach der Kapitulation von Stalingrad zwischen dem 26.1. und 25.2.1943 1.870 Deutsche. In Lesobasa fielen 1.230 deutsche Verwundete in russische Hände; 640 Mann starben.

Kein Soldat, der im Gefecht die Hände hob, um sich gefangen zu geben, konnte absehen, wie der Feind darauf reagieren würde. Es gibt tausende Augenzeugenberichte, daß die sich Ergebenden erschossen wurden. Nach dem Völkerrecht mußten die Gefangenen auf Waffen kontrolliert und zu den Gefangenensammelstellen gebracht werden.

Die Gefangennahme deutscher Soldaten durch Rotarmisten begann im allgemeinen mit der Ausplünderung. Bei der Waffendurchsuchung wurden ihnen die Wertsachen, insbesondere Uhren und Ringe, abgenommen. Oft mußten sie auch ihre Stiefel hergeben; damit waren sie dem Tod geweiht, denn wer kein festes Schuhwerk hatte, kam auf den langen Märschen um.

Viele der Ausgeplünderten wurden, wenn sie bis dahin überlebt hatten, einzeln oder in Gruppen erschossen. Die Erschießungen wurden so umfangreich praktiziert, daß dem Nachrichtendienst der Roten Armee Personen zur Aushorchung fehlten. Die Armeeführungen hatten Schwierigkeiten, die feindliche Aufstellung in Erfahrung zu bringen und Näheres über die Einheiten der Gegenseite, z. B. ihre Bewaffnung und Versorgung, zu erfahren. Die Armeeoberbefehlshaber befahlen deshalb, von der von ihnen als verständlich und rechtmäßig bezeichneten bisherigen Praxis an der Front abzuweichen und die Gefangenen nicht zu erschießen, sondern nach hinten zu schicken.

 

Verstöße gegen die Kriegsgefangenenkonvention

Wer als gefangener deutscher Soldat einer Befragung unterzogen wurde, konnte sich nicht so verhalten, wie er es gelernt hatte, wollte er nicht sein Leben riskieren. Wenn er in Übereinstimmung mit der Genfer Konvention lediglich seinen Namen und seinen Dienstgrad angab und alle weiteren Aussagen verweigerte, war er gefährdet. Der Hinweis auf Artikel 5 der Kriegsgefangenenkonvention war müßig: "Jeder Kriegsgefangene ist verpflichtet, auf Befragen seinen wahren Namen und Dienstgrad oder auch seine Matrikelnummer anzugeben. … Es darf kein Zwang auf die Kriegsgefangenen ausgeübt werden, um Nachrichten über die Lage ihres Heeres oder Landes zu erhalten. Die Kriegsgefangenen, die eine Auskunft hierüber verweigern, dürfen weder bedroht noch beleidigt, noch Unannehmlichkeiten oder Nachteilen irgendwelcher Art ausgesetzt werden." Es liegen zahlreiche Befehle sowjetischer Kommandobehörden vor, nicht aussagewillige Kriegsgefangene zu erschießen. Viele Befragungen waren von Folterungen begleitet. Die einfache Verhörmethode bestand darin, daß der gefangene Soldat am Kopf und an den Füßen festgehalten wurde und mit dem Knüppel bis zu zehn Schläge über Gesäß und Rücken bekam, um ihn zum Sprechen zu bringen. Zu den schwereren Verhören gehörte, daß die nackt ausgezogenen Gefangenen mit Gummiknüppeln auf den Kopf geschlagen wurden, bis ihnen die Ohren wegfielen. Anderen Aussageunwilligen wurden die Fingernägel herausgerissen. Wenn die Vernehmungen durchgeführt waren, übernahm der NKWD die Verhörten. In der Regel wurden sie erschossen.

Um den Rotarmisten an der Front die Überlassung von deutschen Gefangenen nach hinten schmackhaft zu machen, wurde ihnen angedeutet, daß die "Fritzen" nach den Verhören erschossen würden. "Keiner der Eindringlinge wird unser Land lebend verlassen." Wer nach vielen Gefährdungen, Lebensrisiken und Irrungen in einer Gefangenensammelstelle ankam, war noch immer nicht in Sicherheit. … Es war den Begleitmannschaften überlassen, ob sie die Schwachen und Verwundeten am Leben ließen.…

Die sowjetischen Kriegsgefangenenlager unterschieden sich während des ganzen Krieges nicht von denen der Deutschen im Herbst 1941, als nach den großen Kesselschlachten hunderttausende Rotarmisten von heute auf morgen in dem ausgebluteten Land zu versorgen waren. Wieviele deutsche Soldaten in der Gefangenschaft an Strafmaßnahmen, Entkräftung, Hunger, Ruhr, Typhus, Fleckfieber und Überarbeitung starben, wird sich nie aufklären lassen. Von den 1941 und 1942 in sowjetische Gefangenschaft geratenen deutschen Soldaten überlebten nur 5% den Krieg. Die Kranken und Verwundeten sind wohl alle umgekommen.«


 
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